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und v. Bülow schreiben, um sie zu veranlassen, amtliche Erhebungen über die
Handhabung der titres d'acquits an der französischen Grenze anzustellen. Daran
knüpfte sich das Verlangen, eine Untersuchung über die Lage der deutschen
Eisenindustrie zu veranstalten. Das schutzzöllnerische Steinchen war ins Rollen
gekommen.
Und es wuchs im Laufe der nächsten Monate zu einer Lawine, die das
ganze bisher unumschränkt herrschende Freihandelssystem zertrümmern sollte.
Der Fürst begann sich mit den wirtschaftlichen Fragen eingehend zu beschäftigen.
Er ließ sich die Berichte der rheinisch-westfälischen Handelskammern vorlegen,
verglich die Listen über Ein= und Ausfuhr, las die Flugschriften des Zentral-
verbandes deutscher Industrieller und alles, was sonst zur Orientirung über
die wirtschaftliche Lage dienen konnte. Immer mehr vertiefte er sich in die
Details der einzelnen Erwerbszweige und immer deutlicher wurde ihm der all-
gemeine Notstand. Seine Gedanken umkreisten unausgesetzt den einen Punkt,
wo der Hebel zur Abhilfe anzusetzen sei. ·
Und schon nach wenigen Wochen war dieser Punkt gefunden. Das neue
System unserer Handelspolitik stand in großen Umrissen klar vor seinen Augen.
Die Formel, an der es aufgebaut wurde, war im Grunde sehr einfach und
doch im hohen Grade überraschend. Sie lautete: Schutz der gesamten pro—
duktiven Arbeit. Bisher hatten die eifrigsten Vorkämpfer für eine Zollreform
nur den Schutz der Industrie verlangt, an die Landwirtschaft hatte niemand
gedacht. Der Fürst aber erkannte mit klarem Blick die Interessengemeinschaft
beider.
Als er zum erstenmal das Wort „Getreidezölle“ aussprach, erschrak ich,
offen gestanden. Getreidezölle paßten so absolut nicht in irgend ein gangbares
volkswirtschaftliches System, auch nicht in das Listsche, das bekanntlich den
Zollschutz für alle Erzeugnisse der Industrie, aber die freie Einfuhr aller Roh-
stoffe und Lebensmittel fordert. Bald aber überzeugte ich mich, daß hier in
der That ein großartiger Gedanke zur Reife gekommen, daß wieder einmal alle
Theorie grau sei und daß das unendlich schwierige Problem einer durchgreifen-
den Wirtschaftsreform nur nach rein praktischen Gesichtspunkten und nicht nach
Lehrsätzen der Schulweisheit gelöst werden könne.
Als im Januar 1879 die Zolltarif-Kommission zusammentrat und nun
an die Erörterung zahlloser Einzelfragen herangetreten wurde, beherrschte Fürst
Bismarck das gesamte Gebiet der Handelspolitik mit einer Sicherheit, als ob
er zeitlebens nur volkswirtschaftliche Studien betrieben hätte. Und doch hat
er meines Wissens nie, wenigstens so lange nicht, als ich in seiner Nähe war,
ein Lehrbuch der Nationalökonomie in der Hand gehabt.
Wie Sie wissen werden, gehörte auch ich der Zolltarif-Kommission an,
die unter dem Vorsitz des früheren württembergischen Ministers Freiherrn v. Varn-
bühler tagte. Ich wurde zum Referenten für die Getreidezölle ernannt, der
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. V. · 4