nachherige Minister v. Boetticher war Korreferent. Unsere Aufgabe war keine
leichte, da es an allen statistischen Unterlagen für unsere Arbeit fehlte. Die
übrigen Referenten (für Eisen- und Textil-Warenzölle u. s. w.) hatten es wesent-
lich besser. Ihnen standen die Erfahrungen zu Gebote, die man nicht nur in
Deutschland, sondern in allen übrigen Großstaaten seit Jahrzehnten gemacht
hatte. Sie marschirten auf einem festen Boden. Die Getreidezölle aber waren
ein nowum, bei dem alle Vergleichsobjekte fehlten. Jeder Schritt vorwärts
mußte mit großer Vorsicht gemacht werden. Auch begegneten unsere Vorschläge
schon im Schoße der Kommission dem heftigsten und hartnäckigsten Widerstande.
Wenn es dennoch gelang, in verhältnismäßig kurzer Zeit durch endlose Kor-
respondenzen mit Konsulaten, kaufmännischen Korporationen und sonstigen Sach-
verständigen das nötige Material zu beschaffen, um die Vorschläge formuliren
und ausführlich begründen zu können, die später die Zustimmung des Bundes-
rats und Reichstags fanden, so war dies nur möglich unter Aufbietung des
letzten Hauches der Arbeitskraft. Meine Aufgabe war eine doppelt schwierige,
als ich daneben die Geschäfte der Reichskanzlei fortführte. Die Sitzungen der
Kommission dauerten von 10 Uhr morgens bis 4 oder 5 Uhr nachmittags.
Dann speiste ich gewöhnlich beim Fürsten, um ihm während des Diners über
den Fortgang unserer Arbeiten Vortrag zu halten. Und dann saß ich in
meinem Bureau bis tief in die Nacht hinein. Häufig bin ich erst beim Tages-
grauen nach Hause gekommen.
Nicht besser wurde es, als demnächst die Verhandlungen im Reichstage
begannen und ich als Kommissar des Bundesrats dort die Getreide= und Vieh-
zölle zu verteidigen hatte. Als Abgeordneter Reden zu halten, ist keine Kunst.
Es gehört nur etwas Uebung und ein gewisses Quantum Unverfrorenheit dazu.
Man braucht nicht zu sprechen, wenn man nicht aufgelegt ist, und kann zu
jeder Zeit frühstücken. Aber im Reichstage als Vertreter der Reichsregierung
auf jeden Angriff antworten zu müssen und deshalb gezwungen zu sein, mit
unausgesetzter Aufmerksamkeit auch den thörichtsten Reden zu lauschen, das ist
ein Vergnügen so sonderbarer Art, daß niemand, der es einmal gekostet hat,
nach seiner Wiederholung verlangen wird.
Als ich im Sommer 1879 kurz vor Schluß des Reichstags eines Morgens
zum Fürsten ins Zimmer trat, erschrak er. „Um Gottes willen, wie sehen Sie
aus. Noch heute abend reisen Sie an die See oder ins Gebirge und kommen
Sie mir in acht Wochen nicht wieder vor die Augen!“ Ich benutzte dankbar-
lichst den in dieser drastischen Weise gewährten Urlaub und reiste in der That
in der Nacht noch nach Westerland-Sylt. Es war die höchste Zeit, sonst wäre
ich rettungslos zusammengebrochen. —
Da durch diese Tiedemannsche Publikation das Interesse an seiner
Persönlichkeit stark gewachsen ist, so lasse ich hier noch ein paar Kundgebungen