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Beratung des Laskerschen Antrags im Reichstage haben große Sensation erregt.
Die radikale deutschfeindliche und französische Presse nutzt mit Vergnügen diese
Aeußerungen für ihre Zwecke aus, ein Umstand, aus dem Herr v. Mittnacht
ersehen wird, wie wohl er gethan hätte, mit diesen Aeußerungen wenigstens im
Reichstage nicht hervorzutreten. Es ist allseitig nur als ein Provisorium be—
zeichnet worden, daß die Ausarbeitung der für den Reichstag bestimmten Vor—
lagen durch das preußische Ministerium erfolgt. Die Bedenken darüber gehören
nicht vor den Reichstag, sie müssen, wenn sie ausgesprochen werden sollen, von
Regierung zu Regierung oder im Schoße des Bundesrats zum Ausdruck ge—
langen. Herr v. Mittnacht hat es vorgezogen, seine Kritik vor den Reichstag
zu bringen und zwar in einer Weise, die noch mehr ahnen läßt, als wirklich
ausgesprochen wird. Das entspricht jedenfalls nicht den bundesfreundlichen
Gesinnungen, die der König von Württemberg erst jüngst hier kundgegeben hat.“!)
Ich habe die betreffende Zeitungsstimme absichtlich sorgsam registrirt, um
zu zeigen, wie nervös gewisse ultrapreußische Offiziöse waren. In der Sache
hatte Mittnacht unzweifelhaft recht. Wenn der Minister eines der größeren
Bundesstaaten im Reichstag nicht mehr aussprechen durfte, was sich die Mehr-
zahl seiner Kollegen auch sagte, daß die augenblickliche Methode der Gesetz-
fabrikation verbesserungsfähig sei, wozu war denn dann der Art. 9 der Reichs-
verfassung, der sogar die Opposition eines Bundesbevollmächtigten im Reichstag
gegen die Beschlüsse des Bundesrats sanktionirte?2)
Noch thörichter war es, Bismarck die kleinliche Absicht unterzuschieben, den
Minister wegen seiner offenen Aussprache zu rektifiziren. Er wird sich weit
eher darüber gefreut haben, denn die Erfahrungen, die Mittnacht gemacht hatte,
waren ihm selbst nicht fremd. Wiederholt hat er sich darüber beklagt, daß ihm
die preußischen Entwürfe in einem Stadium vorgelegt wurden, daß er moralisch
zu ihrer Annahme fast gezwungen war. Wir werden auf diesen Fall später
noch zurückkommen.
Mittnacht war ganz der Mann, wie er sich ihn für den Bundesrat wünschte.
Bismarck vermißte es, wie wir der weiter unten mitgeteilten Aeußerung des-
selben gegenüber dem Abgeordneten Wichmann entnehmen, geradezu schmerzlich,
daß sich insbesondere die Vertreter der kleineren Staaten im Bundesrat nicht
mit mehr Offenheit auszusprechen wagten: „Ich möchte in der That mehr
Opposition haben.“ Er wünschte sich im Bundesrat sogar die Wahl von
„demokratischen Krakehlern“.
1) Auf die Bestrebungen Mittnachts, den Bundesregierungen bei Ausarbeitung der
Gesetzentwürfe größeren Einfluß zu sichern (Antrag Bayerns vom 11. Mai 1873, Bundesrats-
beschluß vom 31. Mai 1873 auf Mittnachts Antrag) werden wir später zurückkommen.
Vgl. Schultheß, Geschichtskalender 1873, S. 141.
2) Mittnacht hat von diesem seinem Rechte auch noch im Januar 1894 Gebrauch
gemacht.