— 195 —
bemerkt, hauptsächlich die Liebe und Treue für seinen Herrn, den er nicht nach
zwanzigjähriger Dienstleistung als Minister jetzt in die Lage versetzen könne, in
seinem fünfundachtzigsten oder sechsundachtzigsten Jahre sich an neue Ratgeber
noch zu gewöhnen.
„Deshalb werde er auch im Angesicht der heutigen Sachlage ausharren und
weiter versuchen, wie die Sache vielleicht im Sinn der neuesten Wahlergebnisse
fortzuführen sein werde. In der Weise, wie sich manche die Sache zu denken
schienen, werde es allerdings nicht gehen. Dazu, daß er sich zwingen lasse,
gleichsam in den Dienst einer Fraktion einzutreten, dieser gewissermaßen als
Hausknecht oder als Mädchen für Alles dienstbar zu werden, vielleicht sich auf
sein Altenteil der auswärtigen Politik zurückzuziehen, von welcher auch seine
Gegner allenfalls noch anerkennen, daß er einiges verstehe, während seine Ge—
danken über innere Politik als verwerflich bezeichnet würden — davon könne
keine Rede sein. Aber vielleicht ließe sich in dem Gesetz über die Stellvertretung
des Reichskanzlers ein möglicher Ausweg finden. Er werde zunächst einmal
einige Sitzungen des Reichstags abwarten und zusehen, wie dieser sich zu dem
bei der Eröffnung bekannt zu gebenden Programm stelle. Verhalte sich eine
geschlossene Majorität dagegen ablehnend, so könne er ja einmal mit den Führern
der stärksten Parteien Rücksprache nehmen. Er könne zum Beispiel Herrn
v. Franckenstein anbieten, die Stelle als Staatssekretär anzunehmen und dem
Reichstag vorschlagen, einige Reichsminister mit je etwa 20 000 Mark zu
dotiren."
Es ist, wie gesagt, schwierig, die Linie zu ziehen, wie weit diese vertrau-
lichen Tischgespräche eine ernste Grundlage haben, und allenfalls nur die
Schatten künftiger Gesuche, zu einer leidlichen Verständigung zu kommen, voraus
werfen sollen. Beachtenswert ist immerhin, daß manches in dem vorstehend
Wiedergegebenen ziemlich in Uebereinstimmung steht mit dem Leitartikel in der
gestrigen Abendnummer (16. November 1881) der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung“, mit dem Unterschied, daß hier eventuell von Vereinbarungen mit den
Parteien vereint oder getrennt die Rede ist, während der Herr Reichskanzler
gestern nur successive Besprechung mit Zentrum und, wenn diese zu nichts
führen würde, mit den Führern der liberalen Parteien in Aussicht nahm.
Ich werde vorläufig und vorbehaltlich späterer Berichtigung dieser Ansicht
zu nachstehenden Annahmen geleitet:
1. Die Wärme und Ausführlichkeit, mit welcher in der verlesenen Botschaft
auf alle Reformpläne des Kanzlers gleichsam als ein Vermächtnis und Abschluß
der ruhmvollen Lebenslaufbahn des Kaisers zurückgekommen wird, scheint mir
darzuthun, daß es dem Kanzler mit deren weiterer Verfolgung voller Ernst ist
und bleibt.
2. Ein Zurückweichen durch Amtsniederlegung scheint mir in keiner Weise
zu besorgen, vielmehr scheint der Kanzler zu hoffen, durch die warme Ueber-