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Der aus der dritten Lesung der Kommission hervorgegangene Entwurf
wurde am 8. März 1872 dem Reichskanzler überreicht. 1)
Reichs-Oberhandelsgericht. Mit Schreiben vom 20. Januar 18722)
legte der Kanzler dem Bundesrat eine Zusammenstellung der bisherigen ge-
samten Geschäftsthätigkeit des Reichs-Oberhandelsgerichts vor.
Kanzelparagraph. Bekanntlich beabsichtigten die Mitglieder der
liberalen Reichspartei im Reichstag einen Antrag gegen den Mißbrauch des
geistlichen Amtes zu politischen Zwecken. Nachdem aber dieselben, namentlich
Fürst Hohenlohe und v. Bernuth, die Frage mit den Vertretern anderer Frak-
tionen erörtert hatten, stellte sich die Ansicht dahin, daß ein derartiger Antrag
besser von seiten der Regierungen ausgehen würde als vom Reichstag, und
man verständigte sich leicht mit dem Minister v. Lutz dahin, daß er von seiten
der bayerischen Regierung die Frage im Bundesrat anrege. Dies that er in
der Plenarsitzung vom 16. November 1871, nachdem er telegraphisch die Zu-
stimmung seines Souveräns eingeholt hatte, mit einem beredten Vortrage, in
welchem er die Bedeutung ausführte, die jener Mißbrauch in manchen katho-
lischen Gegenden erreicht habe; es sei ein Gebot der Selbsterhaltung für die
Regierungen, ihr Hausrecht zu wahren, wie dies in Frankreich und Belgien ge-
schehen sei, und dem Mangel abzuhelfen, welchen das Fehlen einer entsprechenden
Strafandrohung im deutschen Strafgesetzbuch involvire, indem eine der belgischen
ähnliche Bestimmung eingefügt werde.
In der Bundesratssitzung, in der der bayerische Antrag zur Verhandlung
kam, übernahm Bismarck den Vorsitz und griff zu Gunsten desselben lebhaft in
die Debatte ein. Das Referat hatte der Bevollmächtigte Braunschweigs, Geheimer
Rat v. Liebe übernommen. Einwendungen wurden nur von seiten der sächsischen
Regierung erhoben, welche indessen auch nicht auf eine Verwerfung, sondern
vielmehr auf eine Ausdehnung des Antrags abzielten, die möglicherweise die
Eventualität ins Auge gefaßt hatte, zugleich den sozialdemokratischen Aus-
schreitungen wirksam begegnen zu können.3)
1) „National-Zeitung“ Nr. 116 vom 9. März 1872. Vergleiche auch die „Norddeutsche
Allgemeine Zeitung“ Nr. 59 vom 10. März 1872. Der Bundesrat wurde auch 1872 mit
dem Entwurfe nicht befaßt. Vergleiche die „National-Zeitung“ Nr. 331 vom 18. Juli 1872
und Nr. 362 vom 6. August 1872.
2) In Kohls Bismarck-Regesten nicht erwähnt. Bundesratsverhandlungen, betreffend
die Bestellung des Bundes-Oberhandelsgerichts zum obersten Gerichtshof für Elsaß-Lothringen,
„National-Zeitung“ Nr. 209 vom 31. Mai 1871 und „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“
Nr. 121 vom 26. Mai 1871; betreffend die Vermehrung der Mitglieder desselben durch
Juristen aus Bayern, Württemberg und Baden, „National-Zeitung“ Nr. 149 vom
28. März 1871; betreffend dessen Geschäftsregulativ, Nr. 118 vom 10. März 1871.
3) Der Wortlaut des sächsischen Antrags war: „Wer öffentlich die Verfassung des
Deutschen Reichs oder eines Bundesstaats, oder Staatseinrichtungen, oder die Rechts-