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Antrag Lasker-Miquel wegen Erweiterung der Kompetenz
der Reichsgesetzgebung auf das gesamte bürgerliche Recht und
die Gerichtsverfassung. Noch aus der vorigen Session lagen dem
Bundesrat zwei Anträge aus dem Justizausschusse (ein die Abweisung des
Reichstagsbeschlusses befürwortender Mehrheitsantrag und ein die Zustimmung
empfehlender Minderheitsantrag) vor, 1) welche der Erledigung harrten. Die
Angelegenheit kam in der Sitzung des Bundesrats vom 9. April 1872 zur
Sprache, gelangte aber auch da noch nicht zum Abschluß.
Der als Referent fungirende württembergische Bevollmächtigte, Staats-
minister v. Mittnacht führte aus: Indem er den Mehrheitsantrag (auf Zurück-
weisung des Reichstagsbeschlusses) befürworte, sei es nicht seine Meinung, daß
die durch Nr. 13 des Artikels 4 der Reichsverfassung gezogene Grenze der
Reichskompetenz strikte für alle Zukunft einzuhalten wäre. Die württembergische
Regierung werde angemessenen Erweiterungen der Zuständigkeit der Reichs-
gesetzgebung im einzelnen Fall nicht entgegentreten und insbesondere der Ab-
fassung eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Reich lebhaftes Interesse und
jede ihr mögliche Förderung zuwenden. Zufolge Beschlusses des Norddeutschen
Bundesrats vom 21. Februar 1870 sei der Entwurf eines Bundesgesetzes über
die Gerichtsverfassung und die gerichtlichen Institutionen in Vorbereitung. Für
eine Mitteilung über den Stand dieser Arbeit an den Deutschen Bundesrat
würde die von ihm vertretene Regierung besonders dankbar sein. Er sei der
Ansicht, daß bei einem in die einzelstaatlichen Verhältnisse so tief eingreifenden
Gegenstande eine Mitwirkung der Bundesstaaten schon bei der ersten Aufstellung
des Gesetzentwurfs von besonderem Interesse wäre. Das Ziel, die Grundzüge
einer gemeinsamen Gerichtsorganisation auch ohne strikte Einhaltung der durch
die bestehende Reichsverfassung gezogenen, ohnedem etwas zweifelhaften Grenze
durch Reichsgesetze zu erhalten, ließe sich auch ohne Aenderung der Reichs-
verfassungsurkunde durch gemeinsame Arbeit und Verständigung erreichen. Würde
dieser Gedanke Anklang finden, so wäre wohl seine nähere Erörterung freier
Besprechung innerhalb oder außerhalb der Ausschüsse anheim zu geben.
Der bayerische Bevollmächtigte gab die Erklärung ab, daß er sich den
fraglichen Reichstagsbeschlüssen gegenüber ablehnend verhalten werde. Er bezog
sich in allen Punkten auf die Gründe des Mehrheitserachtens im Berichte der
Ausschüsse für die Verfassung und das Justizwesen vom 9. Dezember 1871
und wollte hinsichtlich der beantragten Erweiterung der Reichskompetenz in
Absicht auf das gesamte bürgerliche Recht nur noch darauf aufmerksam machen,
wie die dem Gesetzentwurfe gegebene Fassung die Befugnis des Reichs in sich
1) Vgl. oben S. 215 und zum folgenden die „National-Zeitung“ Nr. 169 vom
11. April 1872, Nr. 274 vom 15. Juni 1872, Nr. 287 vom 22. Juni 1872. Schulthes
Geschichtskalender 1872 S. 113 (Debatte in der sächsischen Ersten Kammer über die Ab-
gabe der sächsischen Stimme im Bundesrat, a. a. O. S. 99).