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In Bezug auf die Interpretation der Vorschrift im 8 362 Alinea 2 des
Strafgesetzbuchs, welche lautet: „Bei der Verurteilung zur Haft kann zugleich
erkannt werden, daß die verurteilte Person nach verbüßter Strafe der Landes-
polizeibehörde zu überweisen sei. Die Landespolizeibehörde erhält dadurch die
Befugnis, die verurteilte Person entweder bis zu zwei Jahren in ein Arbeits-
haus unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden", war unter
den Behörden einzelner Bundesstaaten eine Kontroverse hervorgetreten. Die
eine Auffassung wollte durch die fragliche Vorschrift lediglich die Dauer der
Unterbringung in ein Arbeitshaus bis zu zwei Jahren geregelt sehen, die zweite
Auffassung ging dahin, daß die Befugnis der Polizeibehörde für Unterbringung
der verurteilten Person in ein Arbeitshaus innerhalb der Frist von zwei Jahren
vollständig zur Ausführung respektive diese Unterbringung zu Ende gebracht sein
müsse. Die Großherzoglich sachsen-weimarische Regierung stellte auf Grund dessen
beim Bundesrat den Antrag, behufs Erledigung der fraglichen Kontroverse durch
eine gemeinschaftliche Instruktion der verschiedenen Landespolizeibehörden den
Bundesregierungen Veranlassung zu geben.
Gerichtsverfassungsgesetz. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes
beschloß am 18. April 1868: den Bundeskanzler zu ersuchen, Entwürfe eines
gemeinsamen Strafrechts und eines gemeinsamen Strafprozesses sowie die da-
durch bedingten Vorschriften der Gerichtsorganisation baldthunlichst vorbereien
zu lassen. Von den gedachten Entwürfen wurde bekanntlich zunächst nur der
des Strafgesetzbuchs in Angriff genommen. 1869 begann die Ausarbeitung
des Entwurfs einer Strafprozeßordnung. Mit den Vorarbeiten zur Aufstellung
des Entwurfs eines Gerichtsverfassungsgesetzes wurde im preußischen Justiz--
ministerium infolge eines Ersuchens des Bundeskanzlers erst im Jahre 1870
der Anfang gemacht.
Der nächste Schritt bestand in dem Zusammentritt der Justizminister der
größeren Bundesstaaten zu einer vertraulichen Besprechung, um die Grundsätze
einer allgemeinen Gerichtsverfassung für Deutschland in Erwägung zu nehmen. 1)
Die Arbeiten dieser Delegirten nahmen einen so günstigen Verlauf, daß bereits
am 1. November 1873 der vom preußischen Justizminister Leonhardt aus-
gearbeitete Entwurf eines Gesetzes über die Verfassung der Gerichte im Deut-
schen Reich für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und für Strafsachen und eines
Einführungsgesetzes dazu mit Motiven dem Reichskanzler übergeben werden
konnte.)
1) Ueber die Beratung der Delegirten der bundesstaatlichen Justizminister vergl.
die „National-Zeitung“ Nr. 174 vom 15. April 1873 und Nr. 175 vom 16. April 1873
sowie die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ Nr. 89 vom 17. April 1873.
2) Details über den Entwurf finden sich in der „National-Zeitung“ Nr. 545 und
546 vom 22. November 1873, Nr. 563 vom 3. Dezember 1873 und Nr. 571 vom 7. De-
zember 1873.