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der Inhalt des Abschnitts der Verfassung über das Eisenbahnwesen gänzlich
illusorisch ist, wenn man dem Reiche die Handhabe zur Durchführung derselben
und zum Geltendmachen seiner Befugnisse verweigerte. 1)
Die skeptische Haltung mehrerer Bundesregierungen war auch wohl der
Grund, weshalb der Reichskanzler im Reichstag bei der Beratung des gegen
die Errichtung eines Reichs-Eisenbahn-Amts gerichteten Antrags Elben seine
Teilnahme an der Diskussion lediglich auf seine Stellung als „Kanzler"
zurückführte.)
Die obigen Bedenken der Bundesregierungen kamen bei einer vertraulichen
Besprechung zum Ausdruck, welche der Bundesrat am 28. Mai 1873 eine Stunde
vor der Plenarsitzung des Reichstags unter dem Vorsitz des Staatsministers
Delbrück abhielt, um sich darüber schlüssig zu machen, welche Stellung der
Bundesrat gegenüber dem obenerwähnten Antrag Elben annehmen sollte.
Von seiten der bayerischen Mitglieder wurde konstatirt, daß eine Kompetenz
des Reichs-Eisenbahn-Amts für Bayern wegen der bayerischen Reservatrechte
nicht Platz greifen könne. Von verschiedenen Seiten wurden gegen das Reichs-
Eisenbahn-Amt Anstände erhoben, weil man die ganze Einrichtung nur als
Ausfluß eines noch fehlenden Eisenbahngesetzes gutheißen wollte. Man betonte,
daß die Verfassung dem Reiche die Kompetenz bezüglich der Gesetze und der
Beaufsichtigung des Eisenbahnwesens unterstelle und die Wirksamkeit der Beauf-
sichtigung nicht ohne voraufgehende gesetzliche Normen denkbar sei.
Schließlich erteilte der Bundesrat in der Sitzung vom 20. Juni 1873
dem von dem Reichstage beschlossenen Gesetzentwurf, betreffend die Errichtung
eines Reichs-Eisenbahn-Amts, gegen die Stimmen von Württemberg und beider
1) Charakteristisch war die Art und Weise, wie sich um die kritische Zeit die Darm-
städtische Regierung auf einen Antrag des Abgeordneten Freiherrn v. Rabenau, die Ueber-
weisung des Eisenbahnkonzessionswesens an das Reich betreffend, äußerte: „In Gemäßheit
der Bestimmungen im Abschnitt VII. Artikel 41—47 der Verfassung des Deutschen Reichs
stehen der Reichsgewalt in Bezug auf das Eisenbahnwesen bereits wesentliche Befugnisse zu.
Es können insbesondere durch Reichsgesetz im Interesse der Verteidigung oder des gemein-
samen Verkehrs für notwendig erachtete Bahnlinien gegen den Widerspruch der Bundes-
mitglieder entweder für Rechnung des Reichs angelegt oder an Private zur Ausführung
konzessionirt werden. Ebenso sind wegen Verpflichtung zur Zulassung neuer Anschlüsse,
Beseitigung des Widerspruchsrechts gegen Anlage von Konkurrenzbahnen, Einführung eines
allgemeinen Betriebs= und Bahnpolizeireglements und Kontrolle über das Tarifwesen die
im allgemeinen Interesse notwendigen Bestimmungen getroffen. Die Großherzogliche Re-
gierung vermag daher das Vorhandensein einer dringenden, unabweisbaren Notwendigkeit
einer Ausdehnung der Kompetenz des Reichs durch Uebertragung des Eisenbahnkonzessions-
wesens zurzeit nicht zu erkennen und findet sich daher dermalen nicht veranlaßt, einen dahin
zielenden Antrag bei dem Bundesrat einzubringen.“
2) Zu vergleichen den Artikel: „Das Reichs-Eisenbahn-Amt“ in der „National-Zeitung“
Nr. 498 vom 25. Oktober 1873, und einen Artikel der „Badischen Korrespondenz“ darüber,
abgedruckt in Nr. 211 vom 7. Mai 1873.