Full text: Gedanken und Erinnerungen. Erster Band. (1)

Petersburger Straßenleben. Gesellschaftlicher Ton. 223 
in guten Manieren und gesellschaftlichem Tone die jüngere zeit- 
genössische Generation zurück stand gegen die vorhergehende des 
Kaisers Nicolaus und beide wieder in europäischer Bildung und 
Gesammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I. 
Dessenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreise und der „Gesellschaft" 
der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häusern der Ari- 
stokratie, namentlich so weit in diesen die Herrschaft der Damen 
reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte sich erheblich, 
wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht 
durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren. 
Ich will nicht entscheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer 
socialen Reaction der jüngern Gesellschaftsschicht gegen die früher 
wirksam gewesenen deutschen Einflüsse oder aus einem Sinken der 
Erziehung in der jüngern russischen Gesellschaft seit der Epoche 
des Kaisers Alexander I. zu erklären ist, vielleicht auch aus der 
Contagion, welche die sociale Entwicklung der Pariser Kreise auf 
die der höhern russischen Gesellschaft auszuüben pflegt. Gute 
Manieren und vollkommne Höflichkeit sind in den herrschenden 
Kreisen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut 
nicht mehr so verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich 
sie in Berührung mit ältern Franzosen und mit französischen und 
noch gewinnender bei russischen Damen jeden Alters kennen gelernt 
habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu 
einem intimen Verkehr mit der jüngsten erwachsenen Generation 
nöthigte, so habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die an- 
genehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des 
Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Gesellschaft verdanke. 
Die antideutsche Stimmung der jüngern Generation hat sich 
demnächst mir und Andern auch auf dem Gebiete der politischen 
Beziehungen zu uns fühlbar gemacht, in verstärktem Maße, seit 
mein russischer College, Fürst Gortschakow, seine ihn beherrschende 
Eitelkeit auch mir gegenüber herauskehrte. So lange er das Gefühl 
hatte, in mir einen jüngern Freund zu sehn, an dessen politischer
	        
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