238 Elftes Kapitel: Zwischenzustand.
her einen Saldo, welcher bei geschickter Ausnutzung uns die Mög-
lichkeit lassen könnte, mit Oestreich uns zu verständigen, ohne
mit Rußland zu brechen; ich fürchtete nur, daß die Verständigung
mit Oestreich wegen der dortigen Ueberschätzung der eignen und
Unterschätzung der preußischen Macht mißlingen werde, wenigstens
so lange, als man in Oestreich nicht von dem vollen Ernst unfrer
eventuellen Bereitschaft auch zu Bruch und Krieg überzeugt sei.
Der Glaube an solche Möglichkeit sei in dem letzten Jahrzehnte
unsrer Politik in Wien verloren gegangen, man habe sich dort auf
der in Olmütz errungnen Basis als auf einer dauernden eingelebt
und nicht gemerkt, oder vergessen, daß die Olmützer Convention
ihre Rechtfertigung hauptsächlich in der vorübergehenden Ungunst
unsrer Situation fand, die durch die Verzettelung unfrer Cadres
und durch die Thatsache hervorgerufen war, daß das ganze Schwer-
gewicht der russischen Macht zur Zeit jener Convention in die Wag-
schale Oestreichs gefallen war, wohin sie nach dem Krimkriege nicht
mehr fiel. Die östreichische Politik uns gegenüber sei aber nach
1856 ebenso anspruchsvoll geblieben, wie zu der Zeit, wo der
Kaiser Nicolaus für sie gegen uns einstand. Wir hätten uns der
östreichischen Illusion in einer Weise unterworfen, welche an das
Experiment erinnerte, ein Huhn durch einen Kreidestrich zu fesseln.
Die östreichische Zuversicht, ein geschickter Gebrauch der Presse, und
ein großer Reichthum an geheimen Fonds ermögliche dem Grafen
Buol die Aufrechthaltung der östreichischen Phantasmagorie und
das Ignoriren der starken Stellung, in der Preußen sich befinden
werde, so bald es bereit sei, den Zauber des Kreidestrichs zu
brechen. Worauf sich die Erwähnung der östreichischen geheimen
Fonds bezog, war dem Regenten bekannt ?).
Nachdem ich meine Auffassung entwickelt hatte, erging an
Schleinitz die Aufforderung, die seinige gegenüber zu stellen. Es
geschah das in Anknüpfung an das Testament Friedrich Wilhelms III.,
) S. o. S. 212 ff.