Full text: Gedanken und Erinnerungen. Erster Band. (1)

290 Dreizehntes Kapitel: Dynastien und Stämme. 
Preußen war nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte; 
es hatte diese Stellung durch die geistige Ueberlegenheit Friedrichs 
des Großen erlangt und durch die gewaltigen Leistungen der 
Volkskraft 1813 rehabilitirt. Ohne die ritterliche Haltung des 
Kaisers Alexander I., die er von 1812 unter Steinischem, jeden- 
falls deutschem Einfluß bis zum Wiener Congreß beobachtete, wäre 
es fraglich geblieben, ob die nationale Begeisterung der vier 
Millionen Preußen des Tilsiter Friedens und einer andern vielleicht 
gleichen Zahl von sympathizers in altpreußischen oder deutschen 
Ländern genügt hätte, von der damaligen Humboldtischen und 
Hardenbergischen Diplomatie und der Schüchternheit Friedrich 
Wilhelms III. so verwerthet zu werden, daß auch nur die künst- 
liche Neubildung Preußens, so wie sie 1815 geschah, zu Stande 
gekommen wäre. Das Körpergewicht Preußens entsprach damals 
nicht seiner geistigen Bedeutung und seiner Leistung in den Frei- 
heitskriegen. 
Deutscher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und 
wirksam zu werden, der Vermittlung dynastischer Anhänglichkeit; 
unabhängig von letztrer kommt er praktisch nur in seltenen Fällen 
zur Hebung, wenn auch theoretisch täglich, in Parlamenten, Zei- 
tungen und Versammlungen; in praxi bedarf der Deutsche einer 
Dynastie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm den 
Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erscheinung ist aber 
ihrer Natur nach keine dauernde Institution. Als Preuße, Ha- 
noveraner, Würtemberger, Baier, Hesse ist er früher bereit, seinen 
Patriotismus zu documentiren, wie als Deutscher; und in den 
untern Klassen und in Parlaments-Fractionen wird es noch lange 
dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht sagen, daß die 
hanöversche, die hessische Dynastie und andre sich besonders bemüht 
hätten, sich das Wohlwollen ihrer Unterthanen zu erwerben, aber 
dennoch wird der deutsche Patriotismus der letztern wesentlich 
bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die Dynastie, nach welcher 
sie sich nennen. Es sind nicht Stammesunterschiede, sondern
	        
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