Welfentreue. Inwieweit sind dynastische Interessen berechtigt? 295
werden. Das deutsche Volk und sein nationales Leben können
nicht unter fürstlichen Privatbesitz vertheilt werden. Ich bin mir
jeder Zeit klar darüber gewesen, daß diese Erwägung auf die
kurbrandenburgische Dynastie dieselbe Anwendung findet, wie auf
die bairische, die welfische und andre; ich würde gegen das
brandenburgische Fürstenhaus keine Waffen gehabt haben, wenn ich
ihm gegenüber mein deutsches Nationalgefühl durch Bruch und
Auflehnung hätte bethätigen müssen; die geschichtliche Prädestination
lag aber so, daß meine höfischen Talente hinreichten, um den König
und damit schließlich sein Heer der deutschen Sache zu gewinnen.
Ich habe gegen den preußischen Particularismus vielleicht noch
schwierigere Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen
deutschen Staaten und Dynastien, und mein angebornes Ver-
hältniß zu dem Kaiser Wilhelm I. hat mir diese Kämpfe er-
schwert. Doch ist es mir schließlich stets gelungen, trotz der starken
dynastischen, aber Dank der dynastisch berechtigten und in entschei-
denden Momenten immer stärker werdenden nationalen Strebungen
des Kaisers seine Zustimmung für die deutsche Seite unfrer Ent-
wicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynastische und par-
ticularistische von allen andern Seiten geltend gemacht wurde. In
der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur mit dem Beistande
des damaligen Kronprinzen möglich. Die territoriale Souveränetät
der einzelnen Fürsten hatte sich im Laufe der deutschen Geschichte
zu einer unnatürlichen Höhe entwickelt; die einzelnen Dynastien,
Preußen nicht ausgenommen, hatten an sich dem deutschen Volke
gegenüber auf Zerstückelung des letztern für ihren Privatbesitz, auf
den souveränen Antheil am Leibe des Volkes niemals ein höheres
historisches Recht, als unter den Hohenstaufen und unter Karl V.
in ihrem Besitz war. Die unbeschränkte Staatssouveränetät der
Dynastien, der Reichsritter, der Reichsstädte und Reichsdörfer war
eine revolutionäre Errungenschaft auf Kosten der Nation und ihrer
Einheit. Ich habe stets den Eindruck des Unnatürlichen von der
Thatsache gehabt, daß die Grenze, welche den niedersächsischen Alt-