Full text: Gedanken und Erinnerungen. Erster Band. (1)

Polonismus und Absolutismus am Petersburger Hofe. 307 
Dies war die auch vom Fürsten Gortschakow vertretene An— 
sicht, dem parlamentarische Einrichtungen ein Feld für europäische 
Verwerthung seiner Beredsamkeit gewährt haben würden, und 
den sein Popularitätsbedürfniß widerstandsunfähig gegen liberale 
Strömungen in der russischen „Gesellschaft“ machte. Er war bei 
der Freisprechung von Wera Sassulitsch (11. April 1878) der Erste, 
der zum Beifall der Zuhörer das Signal gab. 
Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft, 
als ich im April 1862 von dort abging, und blieb so während 
des ersten Jahres meines Ministeramts. Ich übernahm die Leitung 
des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es sich bei dem 
am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufstande nicht blos um das 
Interesse unfrer östlichen Provinzen, sondern auch um die weiter- 
greifende Frage handelte, ob im russischen Cabinet eine polenfreund- 
liche oder eine antipolnische Richtung, ein Streben nach panslavisti- 
scher antideutscher Verbrüderung zwischen Russen und Polen oder 
eine gegenseitige Anlehnung der russischen und der preußischen 
Politik herrschte. In den Verbrüderungsbestrebungen waren die 
betheiligten Russen die Ehrlicheren; von dem polnischen Adel und 
der Geistlichkeit wurde schwerlich an einen Erfolg dieser Be- 
strebungen geglaubt oder ein solcher als das definitive Ziel in's 
Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüde- 
rungspolitik mehr als eine tactische Evolution vorgestellt hätte, zu 
dem Zwecke, gläubige Russen zu täuschen, so lange es nothwendig 
oder nützlich sein würde. Die Verbrüderung wird von dem pol- 
nischen Adel und seiner Geistlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd 
ebenso unwandelbar perhorrescirt wie die mit den Deutschen, 
letztre jedenfalls stärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Nace, 
sondern auch in der Meinung, daß die Russen in staatlicher Ge- 
meinschaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutschen 
aber nicht. 
Für Preußens deutsche Zukunft war die Haltung Rußlands 
eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung
	        
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