Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Streitende Richtungen in Italien. Verhandlung mit Ketteler. 125 
tung aufgenommen von dem Bischof von Mainz, Freiherrn von 
Ketteler, zu welchem Zweck er mich bei Beginn des Reichstags, 
1871, mehrmals aufsuchte. Ich war 1865 mit ihm in Ver— 
bindung getreten, indem ich ihn befragte, ob er das Erzbisthum 
Posen annehmen würde, wobei mich die Absicht leitete, zu zeigen, 
daß wir nicht antikatholisch, sondern nur antipolnisch wären. 
Ketteler hatte, vielleicht auf Anfrage in Rom, abgelehnt wegen 
Unkenntniß der polnischen Sprache. 1871 stellte er mir im Großen 
und Ganzen das Verlangen, in die Reichsverfassung die Artikel 
der preußischen aufzunehmen, welche das Verhältniß der katholi- 
schen Kirche im Staate regelten und von denen drei (15, 16, 18) 
durch das Gesetz vom 18. Juni 1875 aufgehoben worden sind. 
Für mich war die Richtung unfrer Politik nicht durch ein con- 
fessionelles Ziel bestimmt, sondern lediglich durch das Bestreben, 
die auf dem Schlachtfelde gewonnene Einheit möglichst dauerhaft 
zu festigen. Ich bin in confessioneller Beziehung jeder Zeit tolerant 
gewesen bis zu den Grenzen, die die Nothwendigkeit des Zu- 
sammenlebens verschiedener Bekenntnisse in demselben staatlichen 
Organismus den Ansprüchen eines jeden Sonderglaubens zieht. 
Die therapeutische Behandlung der katholischen Kirche in einem 
weltlichen Staate ist aber dadurch erschwert, daß die katholische 
Geistlichkeit, wenn sie ihren theoretischen Beruf voll erfüllen will, 
über das kirchliche Gebiet hinaus den Anspruch auf Betheiligung 
an weltlicher Herrschaft zu erheben hat, unter kirchlichen Formen 
eine politische Institution ist und auf ihre Mitarbeiter die eigne 
Ueberzeugung überträgt, daß ihre Freiheit in ihrer Herrschaft 
besteht, und daß die Kirche überall, wo sie nicht herrscht, berechtigt 
ist, über Diocletianische Verfolgung zu klagen. 
In diesem Sinne hatte ich einige Auseinandersetzungen mit 
Herrn von Ketteler bezüglich seines genauer accentuirten Anspruchs 
auf ein verfassungsmäßiges Recht seiner Kirche, das heißt der Geist- 
lichkeit, auf Verfügung über den weltlichen Arm. Er verwandte 
in seinen politischen Argumenten auch das mehr ad hominem
	        
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