172 Sechsundzwanzigstes Kapitel: Intrigen.
liner Kreise mehr Aufsehn erregen oder auch nur einen Eindruck
machen. Nur die Kaiserin Augusta ist von ihren Jugendeindrücken
nicht frei geworden. Ein katholischer Geistlicher erschien ihr vor—
nehmer als ein evangelischer von gleichem Range und von gleicher
Bedeutung. Die Aufgabe, einen Franzosen oder Engländer zu ge-
winnen, hatte für sie mehr Anziehung als dieselbe Aufgabe einem
Landsmanne gegenüber, und der Beifall der Katholiken wirkte be—
friedigender als der der Glaubensgenossen. Gontaut-Biron, dazu
aus vornehmer Familie, hatte keine Schwierigkeit, sich in den Hof-
kreisen eine Stellung zu schaffen, deren Verbindungen auf mehr als
einem Wege an die Person des Kaisers heranreichten.
Daß die Kaiserin in der Person Gérards einen französischen
geheimen Agenten zu ihrem Vorleser nahm, ist eine Abnormität,
deren Möglichkeit ohne das Vertrauen, welches Gontaut durch
seine Geschicklichkeit und durch die Mitwirkung eines Theils der
katholischen Umgebung Ihrer Majestät genoß, nicht verständlich
ist. Für die französische Politik und die Stellung des französischen
Botschafters in Berlin war es natürlich ein erheblicher Vortheil, einen
Mann wie Gérard in dem kaiserlichen Haushalte zu sehn. Der-
selbe war gewandt bis auf die Unfähigkeit, seine Eitelkeit im Aeußern
zu unterdrücken. Er liebte es, als Muster der neusten Pariser
Mode zu erscheinen, in einer für Berlin auffälligen Uebertreibung,
ein Mißgriff, durch welchen er sich indessen in dem Palais nicht
schadete. Das Interesse für exotische und besonders Pariser Typen
war mächtiger als der Sinn für einfachen Geschmack.
Gontauts Thätigkeit im Dienste Frankreichs beschränkte sich
nicht auf das Berliner Terrain. Er reiste 1875 nach Petersburg,
um dort mit dem Fürsten Gortschakow den Theatercoup einzuleiten,
welcher bei dem bevorstehenden Besuche des Kaisers Alexander in
Berlin die Welt glauben machen sollte, daß er allein das wehrlose
Frankreich vor einem deutschen Ueberfall bewahrt habe, indem er
uns mit einem Quos ego! in den Arm gegriffen und zu dem
Zweck den Kaiser nach Berlin begleitet habe.