216 Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß.
der russischen Regirung, vermittelst eines Congresses zu dem Frieden
mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß sie sich militärisch nicht
stark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oestreich an—
kommen zu lassen, nachdem die rechtzeitige Besetzung von Con-
stantinopel einmal versäumt war. Für die Mißgriffe der russischen
Politik theilt Fürst Gortschakow ohne Zweifel mit jüngern und
energischeren Gesinnungsgenossen die Verantwortlichkeit, aber frei
davon ist er nicht. Wie stark seine Stellung, nach den russischen
Traditionen gemessen, dem Kaiser gegenüber war, zeigt die
Thatsache, daß er gegen den ihm bekannten Wunsch seines
Herrn an dem Berliner Congresse als Vertreter Rußlands theil-
nahm. Indem er, gestützt auf seine Eigenschaft als Reichskanzler
und auswärtiger Minister, seinen Sitz einnahm, entstand die eigen-
thümliche Situation, daß der vorgesetzte Reichskanzler und der seinem
Ressort unterstellte Botschafter Schuwalow neben einander figurirten,
der Träger der russischen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler
sondern der Botschafter war 7.
Diese vielleicht actenmäßig nur aus den russischen Archiven
und vielleicht auch aus diesen nicht nachweisbare, aber nach meiner
Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer
Regirung mit so einheitlicher und absoluter Spitze, wie der russi-
schen, die Einheit der politischen Action nicht gesichert ist. Sie ist
es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Minister
und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unter-
liegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiser in der
Lage ist, je nach seiner Menschenkenntniß und Befähigung zu be-
urtheilen, welcher von seinen berichtenden und vortragenden Dienern
irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt.
Ich will damit nicht sagen, daß der laufende Dienst des auswärtigen
Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die
englische Regirung geräth seltener als die russische in die Noth-
) S. o. S. 106.