Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

218 Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß. 
eigne Interessen zu schädigen, erfuhren wir statt der erwarteten An- 
erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Nich- 
tung und Maß nicht das von unserm russischen Freunde Erwartete 
getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war, 
hatten wir keinen bessern Erfolg. In diesem ganzen Verfahren 
lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, sondern auch dem 
Kaiser Alexander gegenüber, dessen Gemüthe die deutsche Politik 
als unehrlich und unzuverlässig erscheinen sollte. Votre amitis est 
trop platonique, hat die Kaiserin Marie einem unfrer Vertreter 
vorwurfsvoll gesagt. Platonisch bleibt die Freundschaft eines groß- 
mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem 
gewissen Grade; denn keine Großmacht kann sich in den ausschließ- 
lichen Dienst einer andern stellen. Sie wird immer ihre, nicht nur 
gegenwärtigen, sondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen 
im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindschaft mit jeder 
von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müssen. Für Deutschland 
mit seiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage 
trifft das besonders zu. 
Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte strafen 
sich nicht sofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber un- 
schädlich sind sie nie. Die geschichtliche Logik ist noch genauer in 
ihren Revisionen als unsre Oberrechenkammer. Bei Ausführung 
der Congreßbeschlüsse erwartete und verlangte Rußland, daß die 
deutschen Commissarien bei localen Verhandlungen darüber im Orient, 
bei Divergenzen zwischen russischen und andern Auffassungen, generell 
der russischen zustimmen sollten !). Uns konnte in manchen Fragen 
allerdings die objective Entscheidung ziemlich gleichgültig sein, es kam 
für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und 
unfre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch 
parteiisches Verhalten zu stören in Localfragen, die ein deutsches 
1) Vgl. dazu die einer Depesche entnommene Charakteristik der Situation 
im Bismarck-Jahrbuch 1 125 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.