Deutschland vor der Wahl. Bedenken gegen Oestreich. 235
Zu den Bedenken über die zukünftigen östreichisch-deutschen
Beziehungen kam der Mangel an Augenmaß für politische Mög-
lichkeiten, infolge dessen das deutsche Element in Oestreich die
Fühlung mit der Dynastie und die Leitung verloren hat, die ihm
in der geschichtlichen Entwicklung zugefallen war. Zu Sorgen für
die Zukunft eines östreichisch-deutschen Bundes gab ferner die con-
fessionelle Frage Anlaß, die Erinnerung an den Einfluß der Beicht-
väter der Kaiserlichen Familie, die Möglichkeit der Herstellung fran-
zösischer Beziehungen auf katholisirender Unterlage, sobald in Frank-
reich eine entsprechende Wandlung der Form und der Prinzipien
der Staatsleitung eingetreten wäre. Wie fern oder wie nahe eine
solche in Frankreich liegt, entzieht sich jeder Berechnung.
Dazu kam endlich die polnische Seite der östreichischen Politik.
Wir können von Oestreich nicht verlangen, daß es auf die Waffe
verzichte, die es in der Pflege des Polenthums in Galizien Rußland
gegenüber besitzt. Die Politik, die 1846 dazu führte, daß östreichische
Beamte Preise auf die Köpfe polnischer Insurgenten setzten, war
möglich, weil Oestreich die Vortheile der heiligen Allianz, des Bünd-
nisses der drei Ostmächte, durch ein adäquates Verhalten in den
polnischen und orientalischen Dingen bezahlte, gleichsam durch einen
Assecuranzbeitrag zu einem gemeinsamen Geschäfte. Bestand der
Dreibund der Ostmächte, so konnte Oestreich seine Beziehungen zu
den Ruthenen in den Vordergrund stellen; löste er sich auf, so war
es rathsamer, den polnischen Adel für den Fall eines russischen
Krieges zur Verfügung zu haben. Galizien ist überhaupt der öst-
reichischen Monarchie lockrer angefügt, als Posen und Westpreußen
der preußischen. Die östreichische, gegen Osten offne Provinz ist
außerhalb der Grenzmauer der Karpathen künstlich angeklebt, und
Oestreich könnte ohne sie ebenso gut bestehn, wenn es für die 5 oder
6 Millionen Polen und Ruthenen einen Ersatz innerhalb des Donau-
beckens fände. Pläne der Art in Gestalt eines Eintausches rumäni-
scher und südslavischer Bevölkerungen gegen Galizien, unter Her-
stellung Polens mit einem Erzherzoge an der Spitze, sind während