Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Abneigung Wilhelms I. Tragfähigkeit von Bündnissen. 247 
bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfnisses rechnen 
können. 
Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die 
zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Ver- 
hältnisse, unter denen er geschrieben war, sich geändert hatten; 
heut zu Tage aber ist es für eine große Regirung kaum möglich, 
die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll ein- 
zusetzen, wenn die Ueberzeugung des Volkes es mißbilligt. Es ge- 
währt deshalb der Wortlaut eines Vertrages dann, wenn er zur 
Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgschaften wie zur 
Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30—60 000 Mann 
geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II. 
für seinen Schwager in Holland führte, ist heut schwer in Scene 
zu setzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn 
führte, finden sich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. In- 
dessen ist auf die Diplomatie in den Momenten, wo es sich darum 
handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wort- 
laut eines klaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß. 
Die Bereitwilligkeit zum zweifellosen Wortbruch pflegt auch bei 
sophistischen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu 
sein, so lange nicht die force majeure unabweislicher Interessen 
eintritt. 
Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden be- 
findlichen Kaiser schriftlich aus Gastein, aus Wien und demnächst 
aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünschte Wirkung. Um 
die Zustimmung des Kaisers zu dem von mir mit Andrassy ver- 
einbarten und von dem Kaiser Franz Joseph unter der Voraus- 
setzung, daß Kaiser Wilhelm dasselbe thun würde, genehmigten 
Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für 
mich sehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es 
gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da 
ich selbst von den Anstrengungen der letzten Wochen und von der 
Unterbrechung der Gasteiner Cur zu angegriffen war, um die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.