Wilhelm I. giebt nach. Verträge zwischen Großstaaten. 249
nationaler oder confessioneller Natur sich stärker als bisher zeigen,
wenn russische Versuchungen und Anerbietungen auf dem Gebiet
der orientalischen Politik wie zur Zeit Katharinas und Josephs II.
hinzutreten, wenn italienische Begehrlichkeiten Oestreichs Besitz am
Adriatischen Meere bedrohn und seine Streitkräfte in ähnlicher
Weise wie zu Radetzkys Zeit in Anspruch nehmen sollten: dann
würde der Kampf, dessen Möglichkeit mir vorschwebt, ungleicher
sein. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie viel gefährdeter
Deutschlands Lage erscheint, wenn man sich auch Oestreich, nach Her-
stellung der Monarchie in Frankreich, im Einverständniß beider mit
der Römischen Curie, im Lager unfrer Gegner denkt mit dem Be-
streben, die Ergebnisse von 1866 aus der Welt zu schaffen.
Diese pessimistische, aber doch nicht außer dem Bereich der
Möglichkeit liegende und durch Vergangenes nicht ungerechtfertigte
Vorstellung hatte mich veranlaßt, die Frage anzuregen, ob sich ein
organischer Verband zwischen dem Deutschen Reiche und Oestreich-
Ungarn empföhle, der nicht wie gewöhnliche Verträge kündbar,
sondern der Gesetzgebung beider Reiche einverleibt und nur durch
einen neuen Act der Gesetzgebung eines derselben lösbar wäre.
Eine solche Assecuranz hat für den Gedanken etwas Beruhi-
gendes; ob auch im Drange der Ereignisse etwas Sicherstellendes,
daran kann man zweifeln, wenn man sich erinnert, daß die theo-
retisch sehr viel stärker verpflichtende Verfassung des heiligen Römi-
schen Reiches den Zusammenhalt der deutschen Nation niemals hat
sichern können, und daß wir nicht im Stande sein würden, für
unser Verhältniß zu Oestreich einen Vertragsmodus zu finden,
der in sich eine stärkere Bindekraft trüge als die frühern Bundes-
verträge, nach denen die Schlacht von Königgrätz theoretisch un-
möglich war. Die Haltbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten
ist eine bedingte, sobald sie „in dem Kampf um's Dasein“ auf
die Probe gestellt wird. Keine große Nation wird je zu bewegen
sein, ihr Bestehn auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn
sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das ultra posse nemo