Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Gefahren eines Bruchs mit Nußland. 253 
der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, die zwischen 
der Ostgrenze des rumänischen Volksstammes und der Bucht von 
Cattaro vorhanden sind. Aber es ist nicht die Aufgabe des Deut- 
schen Reichs, seine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirk- 
lichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihen. Die Erhaltung 
der östreichisch-ungarischen Monarchie als einer unabhängigen starken 
Großmacht ist für Deutschland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in 
Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Noth- 
wendigkeit mit gutem Gewissen eingesetzt werden kann. Man sollte 
sich jedoch in Wien enthalten, über diese Assecuranz hinaus An- 
sprüche aus dem Bündnisse ableiten zu wollen, für die es nicht 
geschlossen ist. 
Directe Bedrohung des Friedens zwischen Deutschland und 
Rußland ist kaum auf anderm Wege möglich, als durch künstliche 
Verhetzung oder durch den Ehrgeiz russischer oder deutscher Militärs 
von der Art Skobelews, die den Krieg wünschen, bevor sie zu alt 
werden, um sich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches 
Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung 
und in der Presse Rußlands dazu, um zu glauben und zu be- 
haupten, daß die deutsche Politik von aggressiven Tendenzen ge- 
leitet worden sei, indem sie das östreichische und dann das italie- 
nische Defensivbündniß abschloß. Die Verlogenheit war mehr pol- 
nisch-französischen, die Dummheit mehr russischen Ursprungs. Pol- 
nisch-französische Gewandheit hat auf dem Felde der russischen 
Leichtgläubigkeit und Unwissenheit den Sieg über den Mangel solcher 
Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umständen eine 
Stärke oder Schwäche der deutschen Politik liegt. In den meisten 
Fällen ist eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Fein- 
spinnerei früherer Zeiten, aber sie bedarf, wenn sie gelingen soll, 
eines Maßes von persönlichem Vertrauen, das leichter zu verlieren 
als zu erwerben ist. 
Niemand kann die Zukunft Oestreichs an sich mit der Sicher- 
heit berechnen, die für dauernde und organische Verträge erforder-
	        
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