Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

264 Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands. 
ständigung mit ihnen erst beginnen, nachdem sie den Vorstoß gemacht 
hätten. Die Betheiligung Oestreichs an der türkischen Erbschaft 
wird doch nur im Einverständnisse mit Rußland geregelt werden, 
und der östreichische Antheil um so größer ausfallen, je mehr 
man in Wien zu warten und die russische Politik zu ermuthigen 
weiß, eine weiter vorgeschobene Stellung einzunehmen. England 
gegenüber mag die Position des heutigen Rußland als verbessert 
gelten, wenn es Konstantinopel beherrscht, Oestreich und Deutsch- 
land gegenüber ist sie weniger gefährlich, so lange es in Konstan- 
tinopel steht. Es würde dann die preußische Ungeschicklichkeit nicht 
mehr möglich sein, uns wie 1855 für Oestreich, England, Frank- 
reich auszuspielen und einzusetzen, um uns in Paris eine demüthi- 
gende Zulassung zum Congreß und eine mention honorable als 
europäische Macht zu verdienen. 
Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen seines 
Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen 
wird, auf unfre Neutralität rechnen könne, so lange Oestreich 
nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich 
beantwortet, so wird Rußland zunächst denselben Weg wie 1876 
in Reichstadt einschlagen und wieder versuchen, Oestreichs Ge- 
nossenschaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland An- 
erbietungen machen könnte, ist ein sehr weites, nicht nur im Orient 
auf Kosten der Pforte, sondern auch in Deutschland auf unsre 
Kosten. Die Zuverlässigkeit unfres Bündnisses mit Oestreich- 
Ungarn gegenüber solchen Versuchungen wird nicht allein von dem 
Buchstaben der Verabredung, sondern auch einigermaßen von dem 
Charakter der Persönlichkeiten und von den politischen und con- 
fessionellen Strömungen abhängen, die dann in Oestreich leitend 
sein werden. Gelingt es der russischen Politik, Oestreich zu ge- 
winnen, so ist die Coalition des siebenjährigen Krieges gegen uns 
fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben sein, weil 
seine Interessen am Rheine gewichtiger sind als die im Orient und 
am Bosporus.
	        
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