266 Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
essirten Mächte. Wie das schwächere Preußen schon während des
Krimkrieges Momente hatte, in denen es bei entschlossener Rüstung
im Sinne östreichischer Forderungen und über dieselben hinaus
den Frieden gebieten und sein Verständniß mit Oestreich über
deutsche Fragen fördern konnte, so wird auch Deutschland in zu—
künftigen orientalischen Händeln, wenn es sich zurückzuhalten weiß,
den Vortheil, daß es die in orientalischen Fragen am wenigsten inter-
essirte Macht ist, um so sichrer verwerthen können, je länger es seinen
Einsatz zurückhält, auch wenn dieser Vortheil nur in längerem Genusse
des Friedens bestände. Oestreich, England, Italien werden einem
russischen Vorstoße auf Konstantinopel gegenüber immer früher
Stellung zu nehmen haben als die Franzosen, weil die orientalischen
Interessen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zusammen-
hange mit der deutschen Grenzfrage zu denken sind. Frankreich
würde in russisch-orientalischen Krisen weder auf eine neue „west-
mächtliche“ Politik, noch um seiner Freundschaft mit Rußland willen
auf eine Bedrohung Englands sich einlassen können, ohne vorgängige
Verständigung oder vorgängigen Bruch mit Deutschland.
Dem Vortheile, den der deutschen Politik ihre Freiheit von
directen orientalischen Interessen gewährt, steht der Nachtheil der
centralen und exponirten Lage des Deutschen Reiches mit seinen
ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die
Leichtigkeit antideutscher Coalitionen gegenüber. Dabei ist Deutsch-
land vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch
keine Ziele, die nur durch siegreiche Kriege zu erreichen wären, in
Versuchung geführt wird. Unser Interesse ist, den Frieden zu er-
halten, während unfre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme
MWünsche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg
zu erfüllen sind. Dementsprechend müssen wir unfre Politik ein-
richten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder ein-
schränken, uns in dem europäischen Kartenspiele die Hinterhand
wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten
des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der