272 Einunddreißigstes Kapitel: Der Staatsrath.
vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen Minister
Zeit und Mühe darauf, sich mit Inhalt und Tragweite eines
neuen Gesetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn
es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Ressort eingreifen.
Ist das aber der Fall, so regt sich das Unabhängigkeitsgefühl
und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten ministe-
riellen Staaten und jeder Rath in seiner Sphäre beseelt ist. Die
Wirkung eines beabsichtigten Gesetzes auf das praktische Leben im
Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Ressortminister nicht
im Stande sein, wenn er selbst ein einseitiges Product der Büro-
kratie ist, noch viel weniger aber seine Collegen. Diejenigen unter
ihnen, die das Bewußtsein haben, nicht nur Ressortminister,
sondern Staatsminister mit solidarischer Verantwortlichkeit für die
Gesammtpolitik zu sein, machen nicht fünf Procent derer aus,
welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen
beschränken sich auf das Bestreben, ihr Ressort einwandfrei zu ver-
walten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminister und dem
Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentarische Angriffe auf ihr
Ressort mit Beredsamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung
ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die
in der königlichen Unterschrift und der parlamentarischen Be-
willigung liegen, sind ausreichend, um daneben die Frage, ob die
Sache an sich vernünftig sei, vor einem bürokratisch-ministeriellen
Gewissen nicht zur Entscheidung kommen zu lassen. Einreden eines
Collegen, dessen Ressort nicht direct betheiligt ist, erregen die Em-
pfindlichkeit des Ressortministers, und diese wird in der Regel ge-
schont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne An-
träge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnerung, daß
die Erörterungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich
einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit schärferer An-
strengung des eignen Urtheils und größerer Regsamkeit des Ge-
wissens geführt worden sind, als die Ministerberathungen, die ich
mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage gewesen bin.