Fleiß und Gewissenhaftigkeit Wilhelms I. Menschenverstand. 281
um ihm in dem kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten,
und Unterschriften entgegennehmen. Obschon er der Nachtruhe
dermaßen bedürftig war, daß er schon über eine schlechte Nacht
klagte, wenn er zweimal, und über Schlaflosigkeit, wenn er dreimal
erwacht war, so habe ich niemals den leisesten Zug von Verdrieß-
lichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter schwierigen Verhält-
nissen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine eilige Entscheidung zu
erbitten. .
Neben dem Fleiße, zu dem ihn sein hohes Pflichtgefühl trieb,
kam ihm in Erfüllung seiner Regentenpflicht ein ungewöhnliches
Maß von klarem, durch Erlerntes weder unterstützten noch beein-
trächtigten gesunden Menschenverstande, common sense, zu Statten.
Hinderlich für das Verständniß der Geschäfte war die Zähigkeit,
mit der er an fürstlichen, militärischen und localen Traditionen
hing; jeder Verzicht auf solche, jede Wendung zu neuen Bahnen,
wie sie der Lauf der Ereignisse nothwendig machte, wurde ihm
schwer und erschien ihm leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem
oder Unwürdigem. Wie an Personen seiner Umgebung und an
Sachen seines Gebrauchs, so hielt er auch an Eindrücken und
Ueberzeugungen fest, unter der Mitwirkung der Erinnerung an das,
was sein Vater in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan
haben würde; insbesondre im französischen Kriege hatte er die
Erinnerung an den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer
vor Augen.
König Wilhelm, der mich während der schleswig-holsteinischen
Episode einmal vorwurfsvoll fragte: „Sind Sie denn nicht auch ein
Deutscher?“ weil ich mich seiner durch häusliche Einflüsse bedingten
Neigung, ein neues gegen Preußen stimmendes Großherzogthum in
Kiel zu schaffen, widersetzte, derselbe Herr war, wenn er, ohne durch
politische Gedanken angekränkelt zu sein, in naturwüchsiger Freiheit
seinen Empfindungen folgte, einer der entschlossensten Particularisten
unter den deutschen Fürsten, in der Richtung eines patriotischen
und conservativ gesinnten preußischen Offiziers aus der Zeit seines