Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

Freiheit von Eitelkeit, Furcht vor Kritik. Treue. 289 
wieder und blieb dabei „jeder Zoll ein König“, und zwar ein ge- 
rechter und wohlwollender König und ehrliebender Offizier, den der 
Gedanke an sein preußisches porte-épée auf richtigem Wege 
erhielt . 
Der Kaiser konnte heftig werden, ließ sich aber in der Dis- 
cussion von der etwaigen Heftigkeit dessen, mit dem er discutirte, 
nicht anstecken, sondern brach dann die Unterredung vornehm 
freundlich ab. Ausbrüche wie in Versailles bei Abwehr des Kaiser- 
titels waren sehr selten. Wenn er heftig wurde gegen Leute, denen 
er wohlwollte, wie dem Grafen Roon oder mir, so war er entweder 
durch den Gegenstand selbst erregt oder durch fremde, außer- 
amtliche Besprechungen vorher an Auffassungen gebunden, die sich 
sachlich nicht vertreten ließen. Graf Roon hörte dergleichen Ex- 
plosionen an, wie ein Militär in der Front den Verweis eines 
hohen Vorgesetzten, den er nicht verdient zu haben glaubt, aber 
er litt nervös darunter und secundär auch körperlich. Auf mich 
haben Ausbrüche von Heftigkeit des Kaisers, die ich seltner erlebte 
als Roon, niemals contagiös, eher abkühlend gewirkt. Ich hatte 
mir die Logik zurechtgelegt, daß ein Herrscher, der mir in dem 
Maße Vertrauen und Wohlwollen schenkte, wie Wilhelm I., in 
seinen Unregelmäßigkeiten für mich die Natur einer vis major habe, 
gegen die zu reagiren mir nicht gegeben sei, etwa wie das Wetter 
oder die See, wie ein Naturereigniß, auf das ich mich einrichten 
müsse; und wenn mir das nicht gelang, so hatte ich eben meine 
Aufgabe nicht richtig angegriffen. Dieser mein Eindruck beruhte 
nicht auf meiner generellen Auffassung der Stellung eines Königs 
von Gottes Gnaden zu seinem Diener, sondern auf meiner persön- 
lichen Liebe zu Kaiser Wilhelm I. Ihm gegenüber lag mir 
persönliche Empfindlichkeit sehr fern, er konnte mich ziemlich un- 
gerecht behandeln, ohne in mir Gefühle der Entrüstung hervor- 
1) S. Bd. 1 285 f. 
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II 19
	        
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