Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

290 Zweiunddreißigstes Kapitel: Kaiser Wilhelm J. 
zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu sein, werde ich ihm gegenüber 
ebenso wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hause. Es hinderte 
das nicht, daß mich sachliche, politische Interessen, für die ich bei 
dem Herrn entweder kein Verständniß oder eine vorgefaßte Mei- 
nung vorfand, die von Ihrer Majestät oder von confessionellen 
oder freimaurerischen Hofintriganten ausging, in der Stimmung 
einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervosität zu einem 
passiven Widerstande gegen ihn geführt haben, den ich heut in 
ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em- 
pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an 
Momente des Dissenses. 
VI. 
Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit seines Wohl- 
wollens für Andre, seiner aus dem Herzen kommenden und von 
hohem Sinne getragnen Liebenswürdigkeit verdankte er es, daß 
ihm eine gewisse Leistung leicht wurde und gut gelang, die der 
Verstandesthätigkeit constitutioneller Regenten und Minister von Zeit 
zu Zeit viel Mühe macht. Für öffentliche Ansprachen enthalten die 
jährlich wiederkehrenden Aeußerungen solcher Monarchen, deren 
Constitutionalismus als mustergültig betrachtet wurde, einen reichen 
Vorrath an Redewendungen; aber trotz aller sprachlichen Gewand- 
heit haben sowohl Leopold von Belgien wie Louis Philipp die con- 
stitutionelle Phraseologie ziemlich erschöpft, und ein deutscher Monarch 
wird kaum im Stande sein, schriftlich und gedruckt den Kreis der 
brauchbaren Aeußerungen zu erweitern. Mir selbst ist keine Arbeit 
unbehaglicher und schwieriger gewesen, als die Herstellung des 
nöthigen Phrasenbedarfs für Thronreden und ähnliche Aeußerungen. 
Wenn Kaiser Wilhelm selbst Proclamationen redigirte oder wenn 
er eigenhändig Briefe schrieb, so hatten dieselben, auch wenn sie 
sprachlich incorrect waren, doch immer etwas Gewinnendes, oft Be-
	        
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