Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfassung. 307
lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, sich die Ent-
schließung vorbehaltend. Es entstand also die Frage, wie das
Staatoministerium, das die Königliche Zustimmung beantragt hatte,
sich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einst-
weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil
er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Gesetzentwurf
vor dem Thronwechsel eingebracht war, und endlich, weil wir ver-
meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin
schwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver-
schärfen. Die Sache erledigte sich dadurch, daß Se. Majestät mir
am 27. Mai auch das preußische Gesetz vollzogen aus eignem An-
triebe zugehn ließ.
Man hat sich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als
verantwortlich für das gesammte Verhalten der Reichsregirung an-
zusehn. Diese Verantwortlichkeit läßt sich nur dann behaupten,
wenn man seine Berechtigung zugiebt, das kaiserliche Uebersendungs-
schreiben, vermittelst dessen Vorlagen der verbündeten Regirungen
(Art. 16) an den Reichstag gelangen, durch Verweigerung der
Gegenzeichnung zu inhibiren. Der Kanzler an sich hätte, wenn er
nicht zugleich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrathe ist,
nach dem Wortlaute der Verfassung nicht einmal die Berechtigung,
an den Debatten des Reichstags persönlich theilzunehmen. Wenn
er, wie bisher, zugleich Träger eines preußischen Mandates zum
Bundesrathe ist, so hat er nach Art. 9 das Recht, im Reichstage
zu erscheinen und jederzeit gehört zu werden; dem Reichskanzler als
solchem ist diese Berechtigung durch keine Bestimmung der Ver-
fassung beigelegt. Wenn also weder der König von Preußen, noch
ein andres Mitglied des Bundes den Kanzler mit einer Vollmacht
für den Bundesrath versieht, so fehlt demselben die verfassungs-
mäßige Legitimation zum Erscheinen im Reichstage; er führt zwar
nach Art. 15 im Bundesrathe den Vorsitz, aber ohne Votum, und
es würden ihm die preußischen Bevollmächtigten in derselben Un-
abhängigkeit gegenüberstehn wie die der übrigen Bundesstaaten.