Eine Betrachtung über die Reichsverfassung. 309
Herstellung der Reichsverfassung befürchtet, daß die Gefährdung
unsrer nationalen Einheit in erster Linie von dynastischen Sonder—
bestrebungen zu befürchten sei, und hatte mir daher zur Aufgabe
gestellt, das Vertrauen der Dynastien durch ehrliche und wohl—
wollende Wahrung ihrer verfassungsmäßigen Rechte im Reiche zu
gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbesondre die
hervorragenden Fürstenhäuser eine gleichzeitige Befriedigung ihres
nationalen Sinnes und ihrer particulären Ansprüche fanden. In
dem Ehrgefühle, das den Kaiser Wilhelm I. seinen Bundesgenossen
gegenüber beseelte, habe ich stets ein Verständniß für die politische
Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen stark dynastischen Gefühle
schließlich doch überlegen war.
Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge-
meinsamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs-
tage, in Finanzen, basirt auf indirecten Steuern und in Mono-
polen, deren Erträge nur bei dauernd gesichertem Zusammenhange
flüssig bleiben, Bindemittel herzustellen, die haltbar genug wären,
um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider-
stand zu leisten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieser Rech-
nung geirrt, daß ich die nationale Gesinnung der Dynastien unter-
schätzt, die der deutschen Wähler oder doch des Reichstags über-
schätzt hatte, war Ende der siebziger Jahre in mir noch nicht zum
Durchbruch gekommen, mit so viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,
am Hofe, in der conservativen Partei und deren „Declaranten“ zu
kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynastien Abbitte zu leisten;
ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi schuldig sind, darüber
wird die Geschichte einmal entscheiden. Ich kann nur das Zeugniß
ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsscheuen Mitgliedern so-
wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das
Votum ihrer Gefolgschaften lag, eine schwerere Schuld an der
Schädigung unfrer Zukunft beimesse, als sie selbst fühlen. „Get
you home, vou fragments,“ sagt Coriolan. Nur die Führung
des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber sie