Das allgemeine Wahlrecht und sein Gegengewicht. 59
Die Einflüsse und Abhängigkeiten, die das praktische Leben der
Menschen mit sich bringt, sind gottgegebene Realitäten, die man nicht
ignoriren kann und soll. Wenn man es ablehnt, sie auf das
politische Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben an
die geheime Einsicht Aller zum Grunde legt, so geräth man in
einen Widerspruch des Staatsrechts mit den Realitäten des mensch-
lichen Lebens, der praktisch zu stehenden Frictionen und schließlich
zu Explosionen führt und theoretisch nur auf dem Wege social-
demokratischer Verrücktheiten lösbar ist, deren Anklang auf der
Thatsache beruht, daß die Einsicht großer Massen hinreichend stumpf
und unentwickelt ist, um sich von der Rhetorik geschickter und ehr-
geiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit stets einfangen
zu lassen.
Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einflusse der Ge-
bildeten, der sich stärker geltend machen würde, wenn die Wahl
öffentlich wäre 1), wie für den preußischen Landtag. Die größere
Besonnenheit der intelligenteren Classen mag immerhin den mate-
riellen Untergrund der Erhaltung des Besitzes haben; der andre
des Strebens nach Erwerb ist nicht weniger berechtigt, aber für
die Sicherheit und Fortbildung des Staates ist das Uebergewicht
derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatswesen,
dessen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum
rerum cupidi, und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheils-
lose Massen zu belügen, in höherm Maße wie Andre besitzen,
wird stets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt sein, der
so gewichtige Massen, wie staatliche Gemeinwesen sind, nicht folgen
können, ohne in ihrem Organismus geschädigt zu werden. Schwere
Massen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Ent-
wicklung gehören, können sich nur mit Vorsicht bewegen, da die
1) Die geheime Abstimmung wurde bekanntlich erst durch den Antrag
Fries in das Gesetz hineingebracht, während die Regirungsvorlage öffentliche
Abstimmung forderte.