Full text: Gedanken und Erinnerungen. Zweiter Band. (2)

64 Einundzwanzigstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund. 
wicklung gelegen hätte. Dazu wäre vor Allem erforderlich gewesen, 
daß er nicht mit der, unklugerweise noch immer von der öffent- 
lichen Meinung verurtheilten russischen Assistenz geführt wurde. 
Die deutsche Einheit mußte ohne fremde Einflüsse zu Stande 
kommen, aus eigner nationaler Kraft. Ueberdies hatte der innere 
Conflict, von dem der König bei meinem Eintritt in das Mini- 
sterium bis zu dem Entschlusse zur Abdication beeindruckt war, 
an Herrschaft über seine Entschließungen erheblich eingebüßt, seit— 
dem er Minister gefunden hatte, die bereit waren, seine Politik offen, 
ohne Winkelzüge zu vertreten. Er hatte seitdem die Ueberzeugung 
gewonnen, daß die Krone, wenn es zum revolutionären Bruche ge- 
kommen wäre, stärker gewesen sein würde; die Einschüchterungen der 
Königin und der Minister der neuen Aera hatten ihre Kraft ver- 
loren. Dagegen hielt ich in meinen Vorträgen mit meiner Ansicht 
von der militärischen Stärke, die ein deutsch-russisches Bündniß, 
namentlich im ersten Anlauf haben würde, nicht zurück. 
Die geographische Lage der drei großen Ostmächte ist der Art, 
daß eine jede von ihnen, sobald sie von den beiden andern ange- 
griffen wird, sich strategisch im Nachtheil befindet, auch wenn sie in 
Westeuropa England oder Frankreich zum Verbündeten hat. Am 
meisten würde Oestreich, isolirt, gegen einen russisch-deutschen Angriff 
im Nachtheil sein, am wenigsten Rußland gegen Oestreich und Deutsch- 
land; aber auch Rußland würde bei einem concentrischen Vorstoß 
der beiden deutschen Mächte gegen den Bug zu Anfang des Krieges 
in einer schwierigen Lage sein. Bei seiner geographischen Lage 
und ethnographischen Gestaltung ist Oestreich im Kampfe gegen 
die beiden benachbarten Kaiserreiche deshalb sehr im Nachtheil, 
weil die französische Hülfe kaum rechtzeitig eintreffen würde, um 
das Gleichgewicht herzustellen. Wäre aber Oestreich einer deutsch- 
russischen Coalition von Hause aus unterlegen, wäre durch einen 
klugen Friedensschluß der drei Kaiser unter sich das gegnerische 
Bündniß gesprengt oder auch nur durch eine Niederlage Oestreichs 
geschwächt, so wäre das deutsch-russische Uebergewicht entscheidend.
	        
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