66 Einundzwanzigstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund.
wird. Obwohl der König die Frage nicht in demselben Maße wie
ich unter den deutsch-nationalen Gesichtspunkt zog, so unterlag er
doch nicht der Versuchung, der Ueberhebung der östreichischen Politik
und der Landtagsmajorität, der Geringschätzung, die beide der
preußischen Krone bezeigten, im Bunde mit Rußland ein gewalt-
thätiges Ende zu machen. Wenn er auf die russische Zumuthung
einging, so würden wir bei der Schnelligkeit unfrer Mobilisirung,
bei der Stärke der russischen Armee in Polen und bei der damaligen
militärischen Schwäche Oestreichs wahrscheinlich, mit oder ohne den
Beistand der damals noch unbefriedigten Begehrlichkeit Italiens,
Oestreich übergelaufen haben, bevor Frankreich ihm wirksame Hülfe
leisten konnte. Wenn man sicher gewesen wäre, daß das Ergebniß
dieses Ueberlaufens ein Dreikaiserbündniß unter Schonung Oest-
reichs gewesen wäre, so wäre meine Beurtheilung der Situation
vielleicht nicht zutreffend zu nennen gewesen. Aber diese Sicherheit
war Angesichts der divergirenden Interessen Rußlands und Oest-
reichs im Orient nicht vorhanden; es war kaum wahrscheinlich und
auch der russischen Politik nicht zusagend, daß eine siegreiche preußisch-
russische Coalition Oestreich gegenüber auch nur mit dem Maße
von Schonung verführe, welches von preußischer Seite 1866 im
Interesse der Möglichkeit künftiger Wiederannäherung beobachtet
worden ist. Ich fürchtete deshalb, daß wir im Falle unfres Sieges
über die Zukunft Oestreichs mit Rußland nicht einig sein würden,
und daß Rußland selbst bei weitern Erfolgen gegen Frankreich
nicht darauf werde verzichten wollen, Preußen in einer unter-
stützungsbedürftigen Stellung an seiner Westgrenze zu erhalten; am
allerwenigsten wäre von Rußland eine Hülfe für eine nationale
Politik im Sinne der preußischen Hegemonie zu erwarten gewesen.
Tilsit, Erfurt, Olmütz und andre historische Erinnerungen sagten:
vestigia terrent. Kurz, ich hatte nicht das Vertrauen zu der
Gortschakowschen Politik, daß wir auf dieselbe Sicherheit rechnen
könnten, welche Alexander I. 1813 gewährte, bis die Zukunftsfragen,
was aus Polen und Sachsen werden und ob Deutschland gegen