Charakterbild Kaiser Wilhelms I. 197
Einfluß erwies sich in manchen Fällen stärker als alle Beweis-
gründe des Kanzlers und der Minister. Der Kaiser litt oft
„unter dem Kampfe zwischen seinem Verstande und seinem
königlichen Pflichtgefühl einerseits und dem Bedürfniß nach
häuslichem Frieden und weiblicher Zustimmung zur Politik
andererseits“, aber sein ritterliches Gefühl der Gemahlin,
seine mystischen Empfindungen der Königin gegenüber ge-
statteten ihm nicht, ihr jede Beeinflussung seiner Entschließungen
in Sachen der Staatsinteressen zu untersagen. Da Kaiserin
Augusta jederzeit zu den Gegnern Bismarcks gehörte, wie sie
denn bei ihren katholisirenden Neigungen nahe Beziehungen
zum Centrum unterhielt, so wird man es verstehen, wenn
Fürst Bismarck den Kampf hinter den Coulissen jederzeit als
den aufreibendsten Theil seiner amtlichen Thätigkeit bezeichnete.
Wilhelm I. war eine „königlich vornehme“ Erscheinung,
frei von aller Eitelkeit, die Monarchen leicht verleitet, nach
kriegerischem Ruhm oder volksbeglückender Thätigkeit zu streben.
„Niemand hätte gewagt, ihm eine platte Schmeichelei zu
sagen; in dem Gefühle königlicher Würde würde er gedacht
haben: wenn Einer das Recht hätte, mich in's Gesicht zu loben,
so hätte er auch das Recht, mich in's Gesicht zu tadeln. Beides
gab er nicht zu“. Ein „gentleman in's Königliche übersetzt“,
hielt er auf Treue und Ehre nicht nur Fürsten, sondern auch
seinen Dienern gegenüber bis herab zum Kammerdiener. Auch
wenn er heftig wurde, was in der Discussion leicht geschah,
wenn die sachlichen Gründe der Minister durch die unsachlichen
Einwirkungen der Gemahlin entkräftet wurden, blieb er der
König durch die vornehme Art, wie er wieder gut zu machen
pflegte, was er im Uebereifer etwa gefehlt hatte. Auch Bis-
marck hat solche Ausbrüche königlichen Zornes erlebt: in Nikols-
burg, in Versailles, in der Zeit des Culturkampfes und auch
später noch, aber sie wirkten auf ihn nicht „contagiös, sondern
abkühlend". Seine persönliche Liebe zu Kaiser Wilhelm J.
ließ niemals Groll in ihm aufkommen, auch wenn er sich un-
gerecht behandelt fühlte: „ein Herrscher“, sagte er, „der mir
in dem Maße Vertrauen und Wohlwollen schenkte, wie
Wilhelm I., hatte in seinen Unregelmäßigkeiten für mich die