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143.
Bismarck an Minister v. Schleinitz).
Petersburg den 12. May 1859.
Eurer Excellenz
sage ich meinen gehorsamsten Dank für die so reiche und inter= 1859
essante Expedition, welche ich vorgestern Abend durch Feldjäger 12. 5.
Hahn erhalten habe. Im Laufe des gestrigen Tages habe ich
Gelegenheit gefunden, mich in der allgemeinen Richtung der
mir zugegangnen Mittheilungen gegen den Fürsten Gortschakow
auszusprechen. Mein beifolgender Bericht?*) enthält darüber
Näheres, und erlaube ich mir in diesen Zeilen eine andre Seite
der Frage zur Sprache zu bringen, welche ich in amtlicher
Form nicht mit derselben Offenheit zu berühren wage, da ich
noch nicht weiß, bis zu welchem Grade sie Eurer Excellenz als
verdammliche Ketzerei erscheinen wird.
Aus den acht Jahren meiner Frankfurter Amtsführung
habe ich als Ergebniß meiner Erfahrungen die Ueberzeugung
mitgenommen, daß die dermaligen Bundeseinrichtungen für
Preußen im Frieden eine drückende, in kritischen Zeiten eine
lebensgefährliche Fessel bilden, ohne uns dafür dieselben Aequi-
valente zu gewähren, welche Oestreich, bei einem ungleich
größern Maße eigner freier Bewegung, aus ihnen zieht. Beide
Großmächte werden von den Fürsten und Regirungen der
kleinern Staaten nicht mit gleichem Maße gemessen; die Aus-
legung des Zweckes und der Gesetze des Bundes modificirt sich
nach den Bedürfnissen der östreichischen Politik. Ich darf mich
*) Der Brief ist zwar schon von Hesekiel und seitdem öfters ver-
öffentlicht worden, aber mit so viel Fehlern und Lücken, daß seine
Wiedergabe nach einer zu den Privatakten genommenen Abschrift sich
nöthig macht.
5*# Die Berichte Bismarcks aus Petersburg sind leider noch nicht
veröffentlicht.