Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

Erste Kammer oder Herrenhaus? 163 
  
ist wahrscheinlich, daß es in kritischen Lagen der Monarchie 
dieselbe tapfre Festigkeit beweisen wird. Ob es aber für Ver- 
hütung solcher Krisen in den scheinbar friedlichen Zeiten, in 
denen sie sich vorbereiten können, denselben Einfluß ausüben 
wird, wie jene Erste Kammer gethan hat, ist mir zweifelhaft. 
Es verräth einen Fehler in der Constitution, wenn ein Ober- 
haus in der Einschätzung der öffentlichen Meinung ein Organ 
der Regirungspolitik oder selbst der königlichen Politik wird. 
Nach der preußischen Verfassung hat der König mit seiner Re- 
girung an und für sich einen gleichwerthigen Antheil an der 
Gesetzgebung wie jedes der beiden Häuser; er hat nicht nur 
sein volles Veto, sondern die ganze vollziehende Gewalt, ver- 
möge deren die Initiative in der Gesetzgebung factisch und die 
Ausführung der Gesetze auch rechtlich der Krone zufällt. Das 
Königthum ist, wenn es sich seiner Stärke bewußt ist und den 
Muth hat, sie anzuwenden, mächtig genug für eine verfassungs- 
mäßige Monarchie, ohne eines ihm gehorsamen Herrnhauses 
als einer Krücke zu bedürfen. Auch wenn das Herrnhaus in 
der Conflictszeit sich für die ihm zugehenden Etatsgesetze die 
Beschlüsse des Abgeordnetenhauses angeeignet hätte, so wäre 
immer, um ein Etatsgesetz nach Art. 99 zu Stande zu bringen, 
die Zustimmung des dritten Factors, des Königs, unentbehrlich 
gewesen, um dem Etat Gesetzeskraft zu geben. Nach meiner 
Ueberzeugung würde König Wilhelm seine Zustimmung auch 
dann versagt haben, wenn das Herrnhaus in seinen Beschlüssen 
mit dem Abgeordnetenhause übereingestimmt hätte. Daß die 
„Erste Kammer“ das gethan haben würde, glaube ich nicht, 
vermuthe im Gegentheil, daß ihre durch Sachlichkeit und Leiden- 
schaftslosigkeit überlegnen Debatten schon viel früher auf das 
Abgeordnetenhaus mäßigend eingewirkt und dessen Ausschrei- 
tungen zum Theil verhindert haben würden. Das Herrnhaus 
hatte nicht dasselbe Schwergewicht in der öffentlichen Meinung, 
man war geneigt, in ihm eine Doublüre der Regirungsgewalt
	        
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