Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

Briefwechsel mit Gerlach über Legitimität und Bonapartismus. 205 
  
stehenden Gewalten, und des erstern ist er bisher nicht ver- 
dächtiger als Andre. Sie, verehrtester Freund, werfen ihm 
vor, daß er sich nicht halten könne, wenn nicht ringsum alles 
so sei wie bei ihm; wenn ich das für richtig erkännte, so würde 
es hinreichen, meine Ansicht zu erschüttern. Aber der Bona- 
partismus unterscheidet sich dadurch von der Republik, daß er 
nicht das Bedürfniß hat, seine Regirungsgrundsätze gewaltsam 
zu propagiren. Selbst der erste Napoleon hat den Ländern, 
welche nicht direct oder indirect zu Frankreich geschlagen wurden, 
seine Regirungsform nicht aufzudrängen versucht; man ahmte 
sie im Wetteifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe 
der Revolution zu bedrohn, ist heut zu Tage seit einer ziem- 
lichen Reihe von Jahren das Gewerbe Englands, und wenn 
Louis Napoleon so gewollt hätte wie Palmerston, so würden 
wir in Neapel schon vor Jahr und Tag einen Ausbruch er- 
lebt haben. Der Französische Kaiser würde durch Ausbreitung 
revolutionärer Institutionen bei seinen Nachbarn Gefahren 
für sich selbst schaffen; er wird vielmehr, im Interesse der 
Erhaltung seiner Herrschaft und Dynastie und bei seiner Ueber- 
zeugung von der Fehlerhaftigkeit der heutigen Institutionen 
Frankreichs, für sich selbst festere Grundlagen als die der Re- 
volution zu gewinnen suchen. Ob er das kann, ist freilich 
eine andre Frage, aber er ist keineswegs blind für die Mangel- 
haftigkeit und die Gefahren des Bonapartistischen Regirungs- 
systems, denn er spricht sich selbst darüber aus und beklagt sie. 
Die jetzige Regirungsform ist für Frankreich nichts Will- 
kührliches, was Louis Napoleon einrichten oder ändern könnte; 
sie war für ihn ein Gegebenes und ist wahrscheinlich die ein- 
zige Methode, nach der Frankreich auf lange Zeit hin regirt 
werden kann; für alles Andre fehlt die Grundlage entweder 
von Hause aus im National-Charakter, oder sie ist zerschlagen 
und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt auf den 
Thron gelangte, er würde, wenn überhaupt, auch nicht anders
	        
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