272 Elftes Kapitel: Zwischenzustand.
die Verständigung mit Oestreich wegen der dortigen Ueber-
schätzung der eignen und Unterschätzung der preußischen Macht
mißlingen werde, wenigstens so lange, als man in Oestreich
nicht von dem vollen Ernst unfrer eventuellen Bereitschaft auch
zu Bruch und Krieg überzeugt sei. Der Glaube an solche
Möglichkeit sei in dem letzten Jahrzehnte unfrer Politik in
Wien verloren gegangen, man habe sich dort auf der in Olmütz
errungnen Basis als auf einer dauernden eingelebt und nicht
gemerkt oder vergessen, daß die Olmützer Convention ihre
Rechtfertigung hauptsächlich in der vorübergehenden Ungunst
unfrer Situation fand, die durch die Verzettlung unfrer Cadres
und durch die Thatsache hervorgerufen war, daß das ganze
Schwergewicht der russischen Macht zur Zeit jener Convention
in die Wagschale Oestreichs gefallen war, wohin sie nach dem
Krimkriege nicht mehr fiel. Die östreichische Politik uns gegen-
über sei aber nach 1856 ebenso anspruchsvoll geblieben, wie zu
der Zeit, wo der Kaiser Nicolaus für sie gegen uns einstand.
Wir hätten uns der östreichischen Illusion in einer Weise unter-
worfen, welche an das Experiment erinnerte, ein Huhn durch
einen Kreidestrich zu fesseln. Die östreichische Zuversicht, ein
geschickter Gebrauch der Presse und ein großer Reichthum an
geheimen Fonds ermögliche dem Grafen Buol die Aufrecht-
haltung der östreichischen Phantasmagorie und das Ignoriren
der starken Stellung, in der Preußen sich befinden werde, so
bald es bereit sei, den Zauber des Kreidestrichs zu brechen.
Worauf sich die Erwähnung der östreichischen geheimen Fonds
bezog, war dem Regenten bekannt 7.
Nachdem ich meine Auffassung entwickelt hatte, erging an
Schleinitz die Aufforderung, die seinige gegenüber zu stellen.
Es geschah das in Anknüpfung an das Testament Friedrich
Wilhelm's III., also unter geschickter Berührung einer Saite,
1) S. o. S. 212 ff.