336 Dreizehntes Kapitel: Dynastien und Stämme.
keit, sie zu zerstören und zu ignoriren oder die Einheit theoretisch
zu fördern, ohne Rücksicht auf dieses praktische Hemmniß, ist
für die Vorkämpfer der Einheit oft verhängnißvoll gewesen,
namentlich bei Benutzung der günstigen Umstände der nationalen
Bewegung von 1848 bis 1850. Ich habe ein volles Verständniß
für die Anhänglichkeit der heutigen welfischen Partei an die alte
Dynastie, und ich weiß nicht, ob ich ihr, wenn ich als Alt-
Hanoveraner geboren wäre, nicht angehörte. Aber ich würde
auch in dem Falle immer der Wirkung des nationalen deutschen
Gefühls mich nicht entziehn können und mich nicht wundern,
wenn die vis major ) der Gesammtnationalität meine dynastische
Mannestreue und persönliche Vorliebe schonungslos vernichtete.
Die Aufgabe, mit Anstand zu Grunde zu gehn, fällt in der
Politik, und nicht blos in der deutschen, auch andern und stärker
berechtigten Gemüthsbewegungen zu, und die Unfähigkeit, sie
zu erfüllen, vermindert einigermaßen die Sympathie, welche
die kurbraunschweigische Vasallentreue mir einflößt. Ich sehe
in dem deutschen Nationalgefühl immer die stärkre Kraft überall,
wo sie mit dem Particularismus in Kampf geräth, weil der
letztre, auch der preußische, selbst doch nur entstanden ist in Auf-
lehnung gegen das gesammtdeutsche Gemeinwesen, gegen Kaiser
und Reich, im Abfall von Beiden, gestützt auf päpstlichen, später
französischen, in der Gesammtheit welschen Beistand, die alle
dem deutschen Gemeinwesen gleich schädlich und gefährlich waren.
Für die welfischen Bestrebungen ist für alle Zeit ihr erster
Merkstein in der Geschichte, der Abfall Heinrich's des Löwen
vor der Schlacht bei Legnano 5), entscheidend, die Desertion von
Kaiser und Reich im Augenblick des schwersten und gefährlichsten
Kampfes aus persönlichem und dynastischem Interesse.
Dynastische Interessen haben in Deutschland insoweit eine
Berechtigung, als sie sich dem allgemeinen nationalen Reichs-
4) Die stärkere Kraft.
„) 29. Mai 1170.