100 Zweiundzwanzigstes Kapitel: Die Emser Depesche.
den Forderungen dieses Gefühls nicht gerecht wurden, so ver-
loren wir auf dem Wege zur Vollendung unfrer nationalen Ent-
wicklung den ganzen 1866 gewonnenen Vorsprung, und das 1866
durch unfre militärischen Erfolge gesteigerte deutsche National-
gefühl südlich des Mains, wie es sich in der Bereitwilligkeit
der Südstaaten zu den Bündnissen ausgesprochen hatte, mußte
wieder erkalten. Das in den süddeutschen Staaten neben dem
particularistischen und dynastischen Staatsgefühle lebendige
Deutschthum hatte bis 1866 das politische Bewußtsein gewisser-
maßen mit der gesammtdeutschen Fiction unter Oestreichs Leitung
beschwichtigt, theils aus süddeutscher Vorliebe für den alten
Kaiserstaat, theils in dem Glauben an die militärische Ueber-
legenheit desselben über Preußen. Nachdem die Ereignisse den
Irrthum der Schätzung festgestellt hatten, war grade die Hülf-
losigkeit der süddeutschen Staaten, in der Oestreich sie beim
Friedensschlusse gelassen hatte, ein Motiv für das politische
Damascus 0, das zwischen Varnbüler's „Vae Victis"?) unds)
dem bereitwilligen Abschlusse des Schutz= und Trutzbündnisses
mit Preußen lag. Es war das Vertraun auf die durch Preußen
entwickelte germanische Kraft und die Anziehung, welche einer
entschlossenen und tapfern Politik innewohnt, wenn sie Erfolg
hat und dann sich in vernünftigen und ehrlichen Grenzen be-
wegt. Diesen Nimbus hatte Preußen gewonnen; er ging un-
widerruflich oder doch auf lange Zeit verloren, wenn in einer
nationalen Ehrenfrage die Meinung im Volke Platz griff, daß
die französische Insulte „La Prusse cane“ ) einen thatsächlichen
Hintergrund habe.
1) Auf dem Wege nach Damascus hatte Saulus die Erscheinung,
die aus dem fanatischen Juden den Apostel der Lehre Christi machten.
2) S. o. S. 55.
2) So ist zu lesen statt „zu dem bereitwilligen Abschlusse“ der ersten
Ausgabe.
4) S. o. S. 95.