Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Zweiter Band. (2)

Tagebuch des Kronprinzen. Graf Holnstein's Sendung. 137 
  
In dem Gesscken'schen Tagebuche ½ findet sich die Andeutung, 
daß wir unfre Stärke nicht gekannt hätten; die Anwendung 
dieser Stärke in damaliger Gegenwart wäre die Schwäche der 
Zukunft Deutschlands geworden. Das Tagebuch ist wohl nicht 
damals auf den Tag geschrieben, sondern später mit Wendungen 
vervollständigt worden, durch die hösische Streber den Inhalt 
glaublich zu machen suchten. Ich habe meiner Ueberzeugung, 
daß es gefälscht sei?), und meiner Entrüstung über die In- 
triganten und Ohrenbläser, die sich einer arglosen und edlen 
Natur wie Kaiser Friedrich aufdrängten, in dem veröffentlichten 
Immediatberichte ) Ausdruck gegeben. Als ich diesen schrieb, 
hatte ich keine Ahnung davon, daß der Fälscher in der Richtung 
von Gefscken, dem hanseatischen Welfen, zu suchen sei, den seine 
Preußenfeindschaft seit Jahren nicht gehindert hatte, sich um die 
Gunst des preußischen Kronprinzen zu bewerben, um diesen, 
sein Haus und seinen Staat mit mehr Erfolg schädigen, selbst 
aber eine Rolle spielen zu können. Gesfscken gehörte zu den 
Strebern, die seit 1866 verbittert waren, weil sie sich und ihre 
Bedeutung verkannt fanden. 
Außer den bairischen Unterhändlern befand sich in Versailles 
als besondrer Vertraunsmann des Königs Ludwig der ihm als 
Oberststallmeister persönlich nahestehende Graf Holnstein. Der- 
selbe übernahm auf meine Bitte in dem Augenblick, wo die 
Kaiserfrage kritisch war und an dem Schweigen Baierns und 
der Abneigung König Wilhelm's zu scheitern drohte, die Ueber- 
bringung eines Schreibens von mir an seinen Herrn, das ich, 
um die Beförderung nicht zu verzögern, sofort an einem abgedeckten 
Eßtische auf durchschlagendem Papiere und mit widerstrebender 
1) Zum 16. November, vgl. Kaiser Friedrich's Tagebücher, herausg. 
von M. v. Poschinger, S. 120. 
:) Die Annahme, daß das Tagebuch gefälscht sei, hat sich nicht be- 
stätigt. 
:) Vom 23. Sept. 1888, Bismarckregesten, herausg. v. H. Kohl, II 464.
	        
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