Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Zweiter Band. (2)

Italienische Stimmungen. Verhandlungen mit Ketteler. 147 
  
germanische Fractions- und Parteigeist unsrer katholischen 
Landsleute ist ein Element, dem gegenüber auch der päpstliche 
Wille nicht durchschlägt. 
Desgleichen lasse ich dahingestellt, ob die am 16. desselben 
Monats vor sich gegangenen Wahlen zum preußischen Land- 
tage durch das Fehlschlagen der Ledochowski'schen Verhand- 
lungen beeinflußt worden sind. Die letztern wurden in etwas 
andrer Richtung ausgenommen von dem Bischof von Mainz, 
Freiherrn von Ketteler, zu welchem Zweck er mich bei Beginn 
des Reichstags, 1871, mehrmals aufsuchte. Ich war 1865 mit 
ihm in Verbindung getreten, indem ich ihn befragte, ob er das 
Erzbisthum Posen annehmen würde, wobei mich die Absicht 
leitete, zu zeigen, daß wir nicht antikatholisch, sondern nur anti- 
polnisch wären. Ketteler hatte, vielleicht auf Anfrage in Rom, 
abgelehnt wegen Unkenntniß der polnischen Sprache. 1871 
stellte er mir im Großen und Ganzen das Verlangen, in die 
Reichsverfassung die Artikel der preußischen aufzunehmen, welche 
das Verhältniß der katholischen Kirche im Staate regelten und 
von denen drei (15, 16, 18) durch das Gesetz vom 18. Juni 
1875 aufgehoben worden sind. Für mich war die Richtung 
unfrer Politik nicht durch ein confessionelles Ziel bestimmt, 
sondern lediglich durch das Bestreben, die auf dem Schlachtfelde 
gewonnene Einheit möglichst dauerhaft zu festigen. Ich bin in 
confessioneller Beziehung jeder Zeit tolerant gewesen bis zu 
den Grenzen, die die Nothwendigkeit des Zusammenlebens ver- 
schiedner Bekenntnisse in demselben staatlichen Organismus den 
Ansprüchen eines jeden Sonderglaubens zieht. Die thera- 
peutische Behandlung der katholischen Kirche in einem weltlichen 
Staate ist aber dadurch erschwert, daß die katholische Geistlich- 
keit, wenn sie ihren theoretischen Beruf voll erfüllen will, über 
das kirchliche Gebiet hinaus den Anspruch auf Betheiligung an 
weltlicher Herrschaft zu erheben hat, unter kirchlichen Formen 
eine politische Institution ist und auf ihre Mitarbeiter die eigne
	        
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