Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Zweiter Band. (2)

250 Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß. 
  
Platonisch bleibt die Freundschaft eines großmächtigen Cabinets 
für die andern allerdings immer bis zu einem gewissen Grade; 
denn keine Großmacht kann sich in den ausschließlichen Dienst 
einer andern stellen. Sie wird immer ihre nicht nur gegen- 
wärtigen, sondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen 
im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindschaft mit 
jeder von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müssen. Für 
Deutschland mit seiner centralen, nach drei großen Angriffs- 
fronten offnen Lage trifft das besonders zu. 
Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte strafen 
sich nicht sofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber un- 
schädlich sind sie nie. Die geschichtliche Logik ist noch genauer 
in ihren Revisionen als unfre Oberrechenkammer. Bei Aus- 
führung der Congreßbeschlüsse erwartete und verlangte Ruß- 
land, daß die deutschen Commissarien bei localen Verhand- 
lungen darüber im Orient, bei Divergenzen zwischen russischen 
und andern Auffassungen, generell der russischen zustimmen 
sollten ). Uns konnte in manchen Fragen allerdings die ob- 
jective Entscheidung ziemlich gleichgültig sein, es kam für uns 
nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und unfre 
Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch 
parteiisches Verhalten zu stören in Localfragen, die ein deut- 
sches Interesse nicht berührten. Die leidenschaftliche Bitterkeit 
der Sprache aller russischen Organe, die durch die Censur 
autorisirte Verhetzung der russischen Volksstimmung gegen uns 
ließ es dann gerathen erscheinen, die Sympathien, die wir bei 
nichtrussischen Mächten noch haben konnten, uns nicht zu ent- 
fremden. 
In dieser Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben 
des Kaisers Alexander, das trotz aller Verehrung für den be- 
jahrten Freund und Oheim an zwei Stellen bestimmte Kriegs- 
1) Vgl. dazu die einer Depesche entnommene Charakteristik der 
Situation im Bismarck-Jahrbuch 1 125 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.