Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Zweiter Band. (2)

284 Neunundzwanzigstes Kapitel: Der Dreibund. 
  
die einzige Bürgschaft für die Dauer der russischen Freund- 
schaft die Persönlichkeit des regirenden Kaisers, und sobald 
letztre eine minder sichre Unterlage gewährt als Alexander I., 
der 1813 eine auf demselben Throne nicht immer vorauszu- 
setzende Treue gegen das preußische Königshaus bewährt hat, 
wird man auf das russische Bündniß, wenn man seiner be- 
darf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfnisses rech- 
nen können. 
Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die 
zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die 
Verhältnisse, unter denen er geschrieben war, sich geändert 
hatten; heut zu Tage aber ist es für eine große Regirung 
kaum möglich, die Kraft ihres Landes für ein andres befreun- 
detes voll einzusetzen, wenn die Ueberzeugung des Volks es 
mißbilligt. Es gewährt deshalb der Wortlaut eines Vertrags 
dann, wenn er zur Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen 
Bürgschaften wie zur Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 
30 bis 60000 Mann geführt wurden; ein Familienkrieg, wie 
ihn Friedrich Wilhelm II. für seinen Schwager in Holland y 
führte, ist heut schwer in Scene zu setzen, und für einen Krieg, 
wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn führte, finden sich die Vor- 
bedingungen nicht leicht wieder. Indessen ist auf die Diplo- 
matie in den Momenten, wo es sich darum handelt, einen 
Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wortlaut eines 
klaren und tiefgreifenden Vertrags nicht ohne Einfluß. Die 
Bereitwilligkeit zum zweifellosen Wortbruch pflegt auch bei 
sophistischen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden 
zu sein, so lange nicht die force majeure 2) unabweislicher Inter- 
essen eintritt. 
1) Der Erbstatthalter Wilhelm V. von Holland war vermält mit der 
Prinzessin Wilhelmine von Preußen, Schwester Friedrich Wilhelm's II. 
Der Feldzug in den Niederlanden, der preußische Truppen bis nach 
Amsterdam führte, fällt ins Jahr 1787. 
:) Höhere Gewalt.
	        
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