304 Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
bedrohlich beantwortet, so wird Rußland zunächst denselben
Weg wie 1876 in Reichstadt einschlagen und wieder versuchen,
Oestreichs Genossenschaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem
Rußland Anerbietungen machen könnte, ist ein sehr weites,
nicht nur im Orient auf Kosten der Pforte, sondern auch in
Deutschland auf unfre Kosten. Die Zuverlässigkeit unfres
Bündnisses mit Oestreich-Ungarn gegenüber solchen Versuchungen
wird nicht allein von dem Buchstaben der Verabredung, son-
dern auch einigermaßen von dem Charakter der Persönlichkeiten
und von den politischen und confessionellen Strömungen ab-
hängen, die dann in Oestreich leitend sein werden. Gelingt
es der russischen Politik, Oestreich zu gewinnen, so ist die
Coalition des siebenjährigen Kriegs gegen uns fertig, denn
Frankreich wird immer gegen uns zu haben sein, weil seine
Interessen am Rheine gewichtiger sind als die im Orient und
am Bosporus.
Jedenfalls wird auch in der Zukunft nicht blos kriegerische
Rüstung, sondern auch ein richtiger politischer Blick dazu ge-
hören, das deutsche Staatsschiff durch die Strömungen der
Coalitionen zu steuern, denen wir nach unfrer geographischen
Lage und unfrer Vorgeschichte ausgesetzt sind. Durch Liebens-
würdigkeiten und wirthschaftliche Trinkgelder für befreundete
Mächte:) werden wir den Gefahren, die im Schoße der Zukunft
liegen, nicht vorbeugen, sondern die Begehrlichkeit unfrer einst-
weiligen Freunde und ihre Rechnung auf unser Gefühl sorgen-
voller Bedürftigkeit steigern. Meine Befürchtung ist, daß auf
dem eingeschlagnen Wege unfre Zukunft kleinen und vorüber-
gehenden Stimmungen der Gegenwart geopfert wird. Frühere
Herrscher sahen mehr auf Befähigung als auf Gehorsam ihrer
Rathgeber; wenn der Gehorsam allein das Kriterium ist, so
wird ein Anspruch an die universelle Begabung des Monarchen
1) Wie sie Oestreich zu Caprivi's Zeiten durch den neuen Handels-
vertrag gewährt worden sind.