322 Zweiunddreißigstes Kapitel: Kaiser Wilhelm J.
suchen, habe aber kein Geld bei mir, geben Sie mir etwas.“
Da auch ich kein Geld bei mir zu tragen pflegte, so half der
Graf Theodor Stolberg aus. Der Prinz setzte einige Male
einen Thaler, verlor jedes Mal und verließ das Zimmer.
Seine einzige Erholung war, nach einem arbeitsvollen Tage
in seiner Theaterloge zu sitzen; aber auch dort durfte ich als
Minister ihn in dringenden Fällen aufsuchen, um ihm in dem
kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten, und Unter-
schriften entgegennehmen. Obschon er der Nachtruhe der-
maßen bedürftig war, daß er schon über eine schlechte Nacht
klagte, wenn er zweimal, und über Schlaflosigkeit, wenn er
dreimal erwacht war, so habe ich niemals den leisesten Zug
von Verdrießlichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter
schwierigen Verhältnissen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine
eilige Entscheidung zu erbitten.
Neben dem Fleiße, zu dem ihn sein hohes Pflichtgefühl
trieb, kam ihm in Erfüllung seiner Regentenpflicht ein unge-
wöhnliches Maß von klarem, durch Erlerntes weder unter-
stützten noch beeinträchtigten gesunden Menschenverstande, com-
mon sense, zu Statten. Hinderlich für das Verständniß der
Geschäfte war die Zähigkeit, mit der er an fürstlichen, militä-
rischen und localen Traditionen hing; jeder Verzicht auf solche,
jede Wendung zu neuen Bahnen, wie sie der Lauf der Ereig-
nisse nothwendig machte, wurde ihm schwer und erschien ihm
leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem oder Unwürdigem.
Wie an Personen seiner Umgebung und an Sachen seines Ge-
brauchs, so hielt er auch an Eindrücken und Ueberzeugungen fest
unter der Mitwirkung der Erinnrung an das, was sein Vater
in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan haben würde;
insbesondre im französischen Kriege hatte er die Erinnrung an
den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer vor Augen.
König Wilhelm, der mich während der schleswig-holsteinischen
Episode einmal vorwurfsvoll fragte: „Sind Sie denn nicht auch