326 Zweiunddreißigstes Kapitel: Kaiser Wilhelm J.
der Frau von Schleinitz die Federn schnitt und den Schreibtisch
in Ordnung hielt. Durch ihn wurden allein an unsre höchsten
Herrschaften dreizehn Exemplare der „Reichsglocke“, davon zwei
in das Kaiserliche Palais, berichtmäßig eingesandt und andre
an mehre verwandte Höse!).
Als ich einmal den geärgerten und darüber erkrankten
Kaiser des Morgens aussuchen mußte, um über eine höfische
Demonstration zu Gunsten des Centrums eine unter den ob-
waltenden Umständen dringliche Beschwerde zu führen, fand ich
ihn im Bette und neben ihm die Kaiserin in einer Teilette,
die darauf schließen ließ, daß sie erst auf meine Anmeldung
herunter gekommen war. Auf meine Bitte, mit dem Kaiser
allein sprechen zu dürfen, entfernte sie sich, aber nur bis zu
einem dicht außerhalb der von ihr nicht ganz geschlossenen
Thüre stehenden Stuhle und trug Sorge, durch Bewegungen
mich erkennen zu lassen, daß sie Alles hörte. Ich ließ mich
durch diesen, nicht den ersten, Einschüchterungsversuch nicht ab-
halten, meinen Vortrag zu erstatten. An dem Abende desselben
Tags war ich in einer Gesellschaft im Palais. Ihre Mojestät
redete mich in einer Weise an, die mich vermuthen ließ, daß
der Kaiser meine Beschwerde ihr gegenüber vertreten hatte.
Die Unterhaltung nahm die Wendung, daß ich die Kaiserin
bat, die schon bedenkliche Gesundheit ihres Gemals zu schonen
und ihn nicht zwiespältigen politischen Einwirkungen auszusetzen.
Diese nach höfischen Traditionen unerwartete Andeutung hatte
einen merkwürdigen Effect. Ich habe die Kaiserin Augusta in
dem letzten Jahrzehnt ihres Lebens nie so schön gesehn wie in
diesem Augenblicke; ihre Haltung richtete sich auf, ihr Auge
belebte sich zu einem Feuer, wie ich es weder vorher noch
nachher erlebt habe. Sie brach ab, ließ mich stehn und hat,
wie ich von einem befreundeten Hofmanne erfuhr, gesagt:
„Unser allergnädigster Reichskanzler ist heut sehr ungnädig."“
1) S. o. S. 85. 216. 225.