Eine Betrachtung über die Reichsverfaffung. 351
ist diese Berechtigung durch keine Bestimmung der Verfassung
beigelegt. Wenn also weder der König von Preußen, noch ein
andres Mitglied des Bundes den Kanzler mit einer Vollmacht
für den Bundesrath versieht, so fehlt demselben die verfassungs-
mäßige Legitimation zum Erscheinen im Reichstage; er führt
zwar nach Art. 15 im Bundesrathe den Vorsitz, aber ohne
Votum, und es würden ihm die preußischen Bevollmächtigten
in derselben Unabhängigkeit gegenüberstehn wie die der übrigen
Bundesstaaten.
Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Ver-
hältnisse, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeschriebene
Verantwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiserlichen Executiv-=
Gewalt beschränkt und ihm die Befugniß, geschweige denn die
Verpflichtung, im Reichstage zu erscheinen und zu discutiren,
entzogen würde, nicht eine nur formelle sein, sondern auch die
Schwerkraft der Factoren unfres öffentlichen Lebens wesentlich
verändern würde. Ich habe mir die Frage, ob es sich emp-
föhle, derartigen Eventualitäten näher zu treten, vorgelegt zu
der Zeit, als ich mich im December 1884 einer Reichstags-
mehrheit gegenüber fand, die sich aus einer Coalition der ver-
schiedenartigsten Elemente zusammensetzte, aus der Socialdemo=
kratie, den Polen, Welsen, Franzosenfreunden aus dem Elsaß,
den freisinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus
mißgünstigen Conservativen am Hofe, im Parlamente und in
der Presse — der Coalition, die z. B. die Geldbewilligung für
einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte 1. Die
Unterstützung, die ich dieser Opposition gegenüber am Hofe, im
Parlamente und außerhalb desselben fand, war keine unbedingte
und nicht frei von der Mitwirkung mißgünstiger und rivali-
sirender Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch
mit wechselnder Ansicht über ihre Dringlichkeit bei mir und
1) Bgl. Politische Reden X 320 ff.