Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Zweiter Band. (2)

Rede Bismarck's (1. Juni 1865). Stärke des deutschen Parteigeistes. 23 
  
Es liegt im Rückblick auf diese Situation ein bedauerlicher 
Beweis, bis zu welchem Maße von Unehrlichkeit und Vaterlands- 
losigkeit die politischen Parteien bei uns auf dem Wege des 
Parteihasses gelangen. Es mag Aehnliches anderswo vorge- 
kommen sein, doch weiß ich kein Land, wo das allgemeine 
Nationalgefühl und die Liebe zum Gesammtvaterlande den Aus- 
schreitungen der Parteileidenschaft so geringe Hindernisse bereitet 
wie bei uns. Die für apokryph gehaltne Aeußerung, welche 
Plutarch dem Cäsar in den Mund legt , lieber in einem elenden 
Gebirgsdorfe der Erste als in Rom der Zweite sein zu wollen, 
hat mir immer den Eindruck eines ächt deutschen Gedankens 
gemacht. Nur zu viele unter uns denken im öffentlichen Leben 
so und suchen das Dörschen, und wenn sie es geographisch nicht 
finden können, die Fraction resp. Unterfraction und Coterie, 
wo sie die Ersten sein können. Diese Sinnesrichtung, die man 
nach Belieben Egoismus oder Unabhängigkeit nennen kann, hat 
in der ganzen deutschen Geschichte von den rebellischen Herzogen 
der ersten Kaiserzeiten bis auf die unzähligen reichsunmittelbaren 
Landesherrn, Reichs-Städte, Reichs-Dörfer, -Abteien und Ritter 
und die damit verbundne Schwäche und Wehrlosigkeit des Reichs 
ihre Bethätigung gefunden. Einstweilen findet sie im Partei- 
wesen, welches die Nation zerklüftet, stärkern Ausdruck als in 
der rechtlichen oder dynastischen Zerrissenheit. Die Parteien 
scheiden sich weniger durch Programme und Prinzipien als durch 
die Personen, welche als Condottieri an der Spitze einer jeden 
stehn und für sich eine möglichst große Gefolgschaft von Abge- 
ordneten und publicistischen Strebern anzuwerben suchen, die 
hoffen, mit dem Führer oder den Führern zur Macht zu ge- 
langen. Prinzipielle programmatische Unterschiede, durch welche 
die Fractionen zu Kampf und Feindschaft gegen einander ge- 
nöthigt würden, liegen nicht in einer Stärke vor, die hinreichte, 
1) Plutarch, Caes. c. 11; vgl. Plut. Reg. et Imp. Apophthegm. 
Caes. Nr. 5.
	        
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