118 Neuntes Kapitel: Graf Caprivi.
Das Gefühl, von einem erheblichen Theile meiner Collegen
in Preußen und meiner Untergebnen im Reiche als eine Be-
lastung betrachtet zu werden, als ein Gewicht, durch dessen
Druck ihre eigne steigende Entwicklung gehindert wurde, habe
ich seit langer Zeit gehabt, glaube aber, daß dasselbe Gefühl
jeder Ministerpräsident und Reichskanzler gehabt haben würde,
der so lange Zeit bestrebt gewesen wärc, ohne Ablösung seine
Pflicht zu thun, indem er, soweit menschenmöglich, die Einheit
und das Maßhalten der verschiednen strebsamen Ressorts gegen
einander und gegenüber den berechtigten Erwartungen der
Regirten und ihrer einzelnen Interessenklassen zu erhalten
suchte.
Die damit angedeutete Aufgabe kann ohne Verletzung
unfrer Verfassung von dem Monarchen in seinen Eigenschaften
als Deutscher Kaiser und als König von Preußen ebenso gut
erfüllt werden wie von einem Reichskanzler und Minister-
präsidenten, wenn der Monarch die dazu erforderliche Vor-
bereitung und Arbeitskraft besitzt und seinen Ministern gegen-
er die uralten Bäume vor der Gartenseite seiner, früher meiner,
Wohnung hat abhauen lassen, welche eine erst in Jahrhunderten zu
regenerirende, also unersetzbare Zierde der amtlichen Reichsgrundstücke
in der Residenz bildeten. Kaiser Wilhelm I., der in dem Reichskanzler-
garten glückliche Jugendtage verlebt hatte, wird im Grabe keine Ruhe
haben, wenn er weiß, daß sein früherer Gardeoffizier alte Lieblings-
bäume, die ihres Gleichen in Berlin und der Umgegend nicht hatten,
hat niederhauen lassen, um un poco pin di luce zu gewinnen. Aus
dieser Baumvertilgung spricht nicht ein deutscher, sondern ein slavischer
Charakterzug. Die Slaven und die Celten, beide ohne Zwelisel stamm-
verwandter als jeder von ihnen mit den Germanen, sind keine Baum-
freunde, wie Jeder weiß, der in Polen und Frankreich gewesen ist:
ihre Dörser und Städte stehn baumlos auf der Ackerfläche, wie ein
Nürnberger Spielzeug auf dem Tische Ich würde Herrn von Caprivi
manche politische Meinungsverschiedenheit eher nachsehn als die ruch-
lose Zerstörung uralter Bäumc, denen gegenüber er das Recht des
Nießbrauchs eines Staatsgrundstücks durch Deterioration desselben
mißbraucht hat.