Der Allkkatholizismuss. 121
wählen. Hier fanden sich 55 Abgeordnete und 20 altkatholische Priester ein und
wählten zum Bifschof den vormaligen Professor der katholischen Theologie in Breslau,
Reinkens; zugleich den obersten Kirchenrat der Altkatholiken, zur Seite des Bischofs,
aus neun Mitgliedern bestehend, von denen hauptsächlich Schulte, Michelis, Wind-
scheid, Knoodt, Friedrich und Neusch zu nennen sind. Der von Schulte entworsene
Kirchenverfassungsentwurf sollte dem auf den 12. September 1873 angesetzten Kon-
greß in Konstanz zur Durchberatung und Genehmigung vorgelegt werden. Hier fand
derselbe auch beifällige Annahme. Diese Verfassung überträgt die Leitung der alt-
katholischen Kirche dem Bischof und stellt ihm den schon genannten Neunerausschuß
aus Geistlichen und Laien zur Seite, den die Synode der Kirche (der bisherige „Kon-
greß“) erwählt. Diese Synode tritt jährlich in der Pfingstwoche zusammen und ent-
sendet hierzu sämtliche Geistliche und für jede Gemeinde, bez. für je 200 selbständige
Mitglieder einer Gemeinde je einen Vertreter als Abgeordnete. Reinkens nahm die
Wahl an, wurde am 11. August von dem jansenistischen Bischof Heycamp von De-
venter in Holland feierlich geweiht, vom Kaiser und König am 19. September als
Bischof anerkannt und leistete in Berlin am 7. Oktober 1873 den Treueid. Preußen
stellte in das Budget für 1874 einen Posten von 16,000 Thaler als sein Gehalt
ein, der auch, trotz des heftigen Widerstrebens des Zentrums, vom Landtag bewilligt
wurde. Baden und Hessen erkannten ihn gleichfalls als Bischof ihrer altkatholischen
Gemeinden an. Bayern konnte das aus den zuvor entwickelten Gründen zwar nicht
thun, ließ den Bischof aber in Bayern die altkatholischen Gemeinden bereifen und die
Firmung vornehmen. Der Altkatholizismus hatte sich nun mit seiner Anerkennung
als katholische Kirchengenossenschaft in der staatlichen Gesetzgebung Preußens, Hessens,
Badens und Württembergs und der damit in Verbindung stehenden Anerkennung
seiner Rechte an dem kirchlichen Vermögen (die in Preußen durch ein besonderes Ge-
setz vom 4. Juli 1875 erfolgte) gesetzliche Gleichberechtigung mit der neurömischen
Kirche erstritten. Das Reichszivilehegesetz vom 5. Febrnar 1875 beseitigte auch alle
Konflikte und Zweifel der Rechtsbeständigkeit seiner kirchlichen Amtshandlungen in
den mit ultramontanen Gemeinden durchfetzten Gegenden. Mit großer Negelmäßig-
keit wurden seit 1874 alljährlich auch die verfassungsmäßigen altkatholischen Synoden
abgehalten, meist in Bonn, aber auch in Breslau, Mainz, Baden, Krefeld, Köln rc.
Wenn gleichwohl die Seelenzahl der Altkatholiken im Deutschen Reiche zu Ende
der hier in Betracht kommenden Zeitspanne (bis 1878) sich nur auf 52,000 belief und
seither sogar gesunken ist (1882 betrug sie nur 35,000), so bernht dieses ungünstige
Ergebnis zunächst in der Kompliziertheit der deutschen Verfassungsverhältnisse im Ver-
gleich zu denjenigen Osterreichs und der Schweiz), welche den Lebensbedürfnissen des
Altkatholizismus in Bayern während der entscheidenden Jahre gar nicht, in Preußen
viel zu spät gerecht zu werden vermochte. Man bedenke, daß schon das eine Neichs-
gesetz über die Zivilehe, welches für den Bestand des Altkatholizismus so notwendig
war, wie die Lust zum Atmen, vier volle Jahre auf sich warten ließ, ehe es im ganzen
Reiche in Kraft trat. Wäre es möglich gewesen, daß der Altlatholizismus im Feuer
der ersten Erregung, welche 1870 und 1871 Deutschland nach Verkündung der vati-